Nachricht 19.12.2019

Sind wir Verbraucher schuld?

istock/SDI Productionis

Lebensmittelskandale, Fettleibigkeit, Tierleid – immer wieder wird der Vorwurf laut, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher mit ihrer Geiz-ist-Geil-Mentalität für diese Entwicklungen verantwortlich seien. foodwatch-Geschäftsführer Martin Rücker hält dagegen und fordert, dass der Staat die Rechte von Verbraucherinnen und Verbrauchern stärken muss.

„Die“ Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland genießen keinen besonders guten Ruf. „Sie“ wollten immer nur billig, und dann dürften sie sich auch nicht beschweren, wenn sie dafür beim Einkauf im Supermarkt Quittung bekämen: in Form von schlechter Qualität, tierquälerischen Haltungen, ungesunden Lebensmitteln. So ist es immer wieder zu vernehmen, von manchen Medien und aus interessierten politischen und Lobby-Kreisen – und es verfängt. In der stärksten Ausprägung dieses Arguments sind die Menschen auch an Lebensmittelskandalen selbst Schuld – vom Pferdefleisch in der Lasagne bis zur listerienbelasteten Wilke-Wurst.

Der „Geiz-ist-Geil-Mythos“

Doch bereits die Ausgangsthese ist falsch. Gewiss: Es gibt die Menschen, denen beim Essen außer Preis und Geschmack alles gleichgültig ist. Doch für eine Mehrheit dürfte dies nicht gelten. Denn was als vermeintlicher Beleg für die angebliche Schnäppchenmentalität herhalten muss, taugt dazu nicht: Jene Zahlen, nach denen wir „pro Kopf“ weniger für Lebensmittel ausgeben als etwa Französinnen oder Italiener. Doch nicht, weil wir den Geiz so geil finden, sondern weil im deutschen Einzelhandel ein unvergleichlicher Preiskampf tobt und weil unser Wohlstandsniveau höher ist, kommt es zu solchen Werten. Mehr Einkommen, niedrigere Preise – schon wird klar, dass die niedrigen Pro-Kopf-Ausgaben logische Folge dieser Umstände sind und keine Frage einer Geiz-ist-geil-Mentalität. Und warum schließlich greifen viele zum irrwitzig teuren „probiotischen“ Joghurtfläschchen oder zur vergleichsweise hochpreisigen Markenmilch mit der glücklichen Kuh auf dem Etikett? Weil wie sich davon etwas für unsere Gesundheit oder für das Ergehen der Milchkühe versprechen – einmal dahingestellt, dass die meisten solcher Werbeverheißungen nicht halten, was sie versprechen.

Die Macht der Verbraucher hat Grenzen

Ich bin mir sicher: Viele Menschen wollen sich beim Lebensmitteleinkauf kümmern. Um den Umweltschutz, die Tiere, die eigene Gesundheit oder die der Familie. Allein: Sie stoßen dabei an ihre Grenzen.

Starten Sie doch einmal den Versuch, im Supermarkt ein Erdbeerjoghurt zu kaufen – mit Erdbeeren aus der Region und Milch von gesund gehaltenen Kühen. Es ist nahezu unmöglich. Woher die Erdbeeren stammen, ob aus Deutschland oder China, steht meist nicht auf der Packung. Wie es den Milchkühen erging, ist ebenfalls nicht erkennbar. Siegel, die uns tausendfach als vermeintlich einfache Lösungen präsentiert werden, geben nicht verlässlich Auskunft; aus Studien wissen wir: Etwa jedes vierte Lebensmittel stammt von einem vermeidbar krank gehaltenen Tier, und darin unterscheiden sich kleine Bauernhöfe nicht von großen Tierhaltungen und – bei allen Vorteilen – Bio-Anbieter nicht von konventionellen Konkurrenten.

Kinder-Marketing für Zuckerbomben

Anderes Beispiel, Gesundheit: Gerne übersehen wir, welche Kräfte an uns – und an unseren Kindern – zerren. Die bittere ökonomische Wahrheit lautet: Es ist für Unternehmen viel erträglicher, uns ungesunde Lebensmittel zu verkaufen als gesunde. Mit Zuckergetränken, Snacks und Süßigkeiten lassen sich gut und gerne drei Mal so hohe Umsatzrenditen erzielen wie mit Obst oder Gemüse. Es ist kein Zufall, dass gerne 100 Mal so viel Geld in die Junk-Food-Werbung fließt als in die für ausgewogene Produkte. Und wir sollten uns auch nicht wundern, warum die Lebensmittelindustrie – die schon die Kategorie „Kinderlebensmittel“ aus Marketing- und nicht aus ernährungswissenschaftlichen Gründen erfunden hat – fast nur Ungesundes mit Comichelden, Sportstars, Spielzeugbeigaben und eigenen Markenwelten gezielt an Kinder vermarktet, zum Teil sogar in Schulen oder Kitas. Das Ergebnis sehen wir an den Statistiken: Kinder essen nur die Hälfte der wünschenswerten Mengen Obst und Gemüse, verzehren aber mehr als doppelt so viele Süßwaren, Knabberartikel, Limos wie empfohlen. 15 Prozent der Kinder gelten als übergewichtig, 6 Prozent sogar als fettleibig. Gegen die Einflüsse einer zuckersüchtigen Industrie fällt es auch den willensstärksten Eltern schwer, sich so zu kümmern, wie sie dies gerne möchten.

Politik für Verbraucherinnen und Verbaucher

Um uns kümmern zu können, sind wir darauf angewiesen, dass der Staat die Rechte von Verbraucherinnen und Verbrauchern stärkt: Durch bessere Informationen und Kennzeichnung, dadurch, dass Standards wie Lebensmittelsicherheit oder eine tiergerechte Haltung für alle Lebensmittel garantiert sind, dadurch, dass ökonomischen Fehlanreizen gegengesteuert wird (etwa durch eine Zucker-Steuer auf Limonaden im Gegenzug für eine Mehrwertsteuerbefreiung für Obst und Gemüse und durch Beschränkung von an Kindern gerichtete Werbung auf ausgewogene Produkte). Dies und nicht weniger sollte der Anspruch von Verbraucherschutzpolitik sein.

Martin Rücker ist Geschäftsführer von foodwatch. Er hat den Text ursprünglich für den Equal Care Day verfasst.