Nachricht 27.07.2015

Geleaktes Dokument: Gefahr der Entmachtung der Parlamente

Ein vertrauliches Regierungsprotokoll über die TTIP-Verhandlungen zeigt: Trotz anders lautender öffentlicher Beteuerungen fürchtet die Bundesregierung, dass durch das geplante Freihandelsabkommen weitreichende Regulierungsvorhaben in Zukunft ohne parlamentarische Zustimmung beschlossen werden könnten.

Die Bundesregierung versichert zwar offiziell stets, bei der sogenannten „regulatorischen Kooperation“ zwischen EU und USA würden das Europäische Parlament und nationale Parlamente eingebunden – intern warnen Regierungsvertreter aber davor, dass die Abgeordneten bei wichtigen Fragen zukünftig außen vor bleiben könnten. Dies belegt ein vertraulicher Bericht eines deutschen Regierungsmitarbeiters für das Bundeswirtschaftsministerium über ein Treffen zwischen EU-Mitgliedstaaten und Kommissionsvertretern im Januar 2015, die das Recherchebüro Correctiv veröffentlicht hat. foodwatch hatte Anfangt Juli bereits eine Analyse der Universität Göttingen veröffentlicht, in der fehlende Mitbestimmungsrechte der EU-Abgeordneten nach Abschluss des TTIP-Abkommens kritisiert wurden.

Gefahr für die Demokratie wird verschwiegen

foodwatch kritisierte, dass die Bundesregierung öffentlich Wachstum und Wohlstand durch TTIP verspricht – und gleichzeitig die Bedrohung für die Demokratie verschweigt. Ohne jede parlamentarische Kontrolle könnten Technokraten und Beamte in Zukunft über weitreichende Regulierungsvorhaben entscheiden: Das ist die reale Gefahr des transatlantischen Freihandelsabkommens, über die die TTIP-Befürworter öffentlich nicht sprechen.

Expertenausschüsse treffen weitreichende Entscheidungen

Bei der „regulatorischen Kooperation“ sollen im Rahmen von TTIP Regulierungsvorhaben auf beiden Seiten des Atlantiks abgestimmt werden – inwiefern dabei die Parlamente eingebunden werden, ist aber offen. Zwar müsste zumindest das Europäische Parlament ein einziges Mal seine Zustimmung zu dem fertig ausgehandelten TTIP-Vertrag geben. TTIP ist jedoch als ein so genanntes „living agreement“ geplant, welches zwischen EU und USA stetig weiterentwickelt werden soll. In Expertenausschüssen (wie dem Rat für regulatorische Kooperation – Regulatory Cooperation Body, RCB und dem Joint Ministerial Body, JMB) könnten somit weitreichende Ergänzungen und Änderungen an dem Vertragswerk vorgenommen werden, ohne dass die Abgeordneten zustimmen müssten.

Vertrauliche Warnungen der Bundesregierung

Öffentlich hat die Bundesregierung diese Gefahr mangelnder parlamentarischer Kontrolle immer abgestritten. Regulatorische Kooperation sei lediglich ein „Austausch zwischen Regulierungsbehörden“ hieß es beispielsweise in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage im Bundestag. Die Entscheidungshoheit des Gesetzgebers dürfe „nicht beeinträchtigt werden“, so das Bundeswirtschaftsministerium. In den nun geleakten vertraulichen Berichten über die Verhandlungen zeigt sich aber ein anderes Bild: Dem vertraulichen Protokoll zufolge warnte die Bundesregierung explizit davor, dass ein Regulierungsausschuss „seinerseits Annexe [zum TTIP-Vertrag; Anmerkung foodwatch] ändern und hinzufügen und sonstige Entscheidungen treffen solle“. Weiter heißt es in dem Regierungsbericht, Deutschland „äußerte sich zudem kritisch zur gesamten Struktur, wonach unterhalb des RCB weitere Unterarbeitsgruppen gebildet werden können und insgesamt der Eindruck einer transatlantischen Behörde geschaffen werde“.

Analyse der Uni Göttingen

Das interne Dokument zeigt: Welche Befugnisse diese Ausschüsse im Detail erhalten werden, ist stark umstritten. Auf Nachfrage von foodwatch erklärte der Völkerrechtler Dr. Till Holterhus vom Göttinger Institut für Völkerrecht und Europarecht hierzu: „Legt man die bekannten Formulierungen im Entwurf des Freihandelsabkommens CETA zwischen Kanada und der EU und das nun bekannt gewordene interne TTIP-Verhandlungsdokument zu Grunde, so kann nach heutigem Stand nicht ausgeschlossen werden, dass im Rahmen der regulatorischen Kooperation in einigen Bereichen völkerrechtlich verbindliche Bestimmungen – etwa durch die Änderung von Annexen – begründet oder geändert werden können, ohne dass es einer erneuten Ratifikation und damit der Zustimmung des Europäischen Parlamentes sowie im Regelfall der mitgliedstaatlichen Parlamente bedürfte.“

Auf dem Weg zur „marktkonformen“ Demokratie?

Die Kritik von foodwatch: Das vertrauliche Papier belegt, wie die Bundesregierung die Öffentlichkeit in die Irre führt. Gefahren von TTIP werden in der Öffentlichkeit regelmäßig geleugnet, Kritikern wird Panikmache unterstellt. Dabei weiß die Regierung in Wahrheit offenbar sehr genau, dass bei TTIP Expertengremien ohne jede parlamentarische Zustimmung verbindliche Regulierungsmaßnahmen beschließen könnten – etwa Vorgaben zur Lebensmittelkennzeichnung oder zur Zulassung von Chemikalien. Dass die Parlamente in Deutschland und Europa durch TTIP-Expertengremien entmachtet werden könnten, ist Bundeskanzlerin Merkel offensichtlich bewusst. Doch sie trommelt unverdrossen weiter für das Abkommen. Ist das ihre Vorstellung von ‚marktkonformer‘ Demokratie?