Nachricht 27.09.2012

„Wir werden eine gesetzliche Regelung brauchen“

Der Hamburger Wirtschaftswissenschaftler Tobias Effertz (37) ist einer der renommiertesten Experten im Bereich Kindermarketing. Im foodwatch-Interview spricht er über Taschengeld für die Kleinsten, Werbung im Kinderfernsehen und Lebensmittelfirmen im Klassenzimmer.

foodwatch: Herr Effertz, warum sind Kinder eine so wichtige Zielgruppe für die Lebensmittelindustrie?    

Tobias Effertz: Kinder sind Konsumenten ohne große Produkterfahrung und lieben Süßigkeiten und andere ungesunde Lebensmittel. Und sie verfügen über so viel Taschengeld wie nie zuvor in Deutschland und beeinflussen zudem Eltern, bestimmte Nahrungsmittel zu kaufen. Es lässt sich also eine Menge Umsatz erzielen, wenn man Kinder von seinen Produkten überzeugt. Das wichtigste Argument aber ist: Die Nahrungsmittelindustrie gewinnt treue Kunden, wenn es ihnen gelingt, möglichst früh die eigenen Produkte in den Köpfen der Kinder zu verankern. Studien zeigen, dass bereits Kleinkinder unter drei Jahren sich Markensymbole merken und diese wiedererkennen können. Diese Bindungen sind emotionaler Natur und sorgen dafür, dass die Kinder bis ins Erwachsenenalter hinein die Produkte nachfragen.

Wie wirkt Werbung auf Kinder?

Kinder werden durch Werbung beeinflusst, ein Produkt zu kaufen, ohne dieses kritisch durchdacht zu haben. Sie wissen zwar schon ganz gut, was Werbung ist, können sich aber nicht gegen sie zur Wehr zu setzen. Die Lebensmittelindustrie versucht also gezielt Kinder mit emotionalen Ansprachen für ihre Produkte zu begeistern.

Wie läuft das ab?

Für Fernsehwerbung haben wir kürzlich nachweisen können: Besonders in der Zeit, in der viele Kinder fernsehen, wird Werbung für ungesunde Kinderlebensmittel ausgestrahlt. In den Spots finden sich Elemente, die besonders Kindern gefallen: Comiccharaktere, unrealistische Situationen, animierter Hokus-Pokus. Kurz: alles das, was Kindern Spaß macht. Im Internet sieht es ähnlich aus. In einer aktuellen noch laufenden Untersuchung haben wir auch die Internetauftritte einiger Lebensmittelprodukte und -marken untersucht. Auch hier deutet sich an, dass gerade die ungesunden Produkte im Vergleich zu gesunden Lebensmitteln mit ausgefeilten Methoden des Kindermarketings beworben werden. Etwa indem auf den Webseiten Spiele und Downloads für Kinder angeboten und die gleichen Stilelemente wie in der Fernsehwerbung genutzt werden.

2007 haben sich einige große Unternehmen verpflichtet, keine ungesunden Lebensmittel mehr an Kinder unter 12 Jahren zu bewerben. Funktioniert diese Selbstverpflichtung?

Nein, im Gegenteil: Die Lebensmittelindustrie bewarb nach der Selbstverpflichtungserklärung sogar noch stärker ungesunde Produkte gezielt an Kinder. Ich bin der Auffassung, dass die Nahrungsmittelindustrie aufgrund der Konkurrenzsituation in der Branche und des wichtigen Potenzials der Kinder als Kunden niemals ernsthaft eine Selbstverpflichtung betreiben wird, die in der Konsequenz auch dazu führt, dass Kinder tatsächlich weniger der eigenen Produkte nachfragen. Allein schon wegen des Drucks der Anteilseigner, gute Geschäftsergebnisse vorzulegen, wird dies kein Management verantworten wollen.

Stattdessen werden häufig Maßnahmen ergriffen, die von der Verantwortung der Unternehmen ablenken und Verantwortungsbewusstsein suggerieren sollen. Etwa durch von der Industrie bezahlte Ernährungskunde in Schulen.

Zahlreiche Unternehmen setzen inzwischen auf solche PR-Aktivitäten an Schulen oder Kindergärten...

Ja, und diese Entwicklung ist gefährlich: Das besondere Problem beim Schulsponsoring ist, dass damit neben den Hausaufgaben auch die Produkte und Marken gelernt und verinnerlicht werden. Gerade Kinder aus den unteren sozialen Schichten, die kaum Geld für Schulsachen aufbringen können, sind dann besonders betroffen. Die Haltung einiger Lehrer, dass gesponsertes Bildungsmaterial nicht so schlimm sei und gleichzeitig die finanziellen Probleme der Schule löst, halte ich schlicht für unverantwortlich. Kindergärten und Schulen müssen werbefrei sein und bleiben!

Die Lebensmittelindustrie argumentiert, wenn Kinder sich falsch ernährten, liege das in der Verantwortung der Eltern. Die müssten eben einfach häufiger „nein“ sagen...

Die Lebensmittelindustrie macht es sich da sehr einfach. Selbstverständlich ist es zuerst die Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen und ihnen auch ein ordentliches Ernährungsverhalten zu vermitteln. Aber dies ist in der heutigen Zeit alles andere als leicht – mehr als die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland ist selbst übergewichtig oder sogar fettleibig. Kinder kopieren häufig die Essgewohnheiten der Eltern. Außerdem haben sich die sozioökonomischen Randbedingungen in den letzten Jahren weiter verschärft. Die Geburtenrate ist nach wie vor niedrig, klassische Familienmodelle in denen sich ein Elternteil besser auf die Ernährungserziehung des Kindes konzentrieren kann, nehmen ab. Die moderne Familie ist durch beiderseitige Berufstätigkeit und komplett durchorganisierte Tagesabläufe charakterisiert. Da ist es schwer neben KITA, Schule, Haushalt und Beruf auch noch Zeit für die Ernährungserziehung des  Nachwuchses aufzubringen. Das weiß die Nahrungsmittelbranche natürlich – und nutzt es bewusst aus.

Politische Maßnahmen konzentrieren sich vor allem auf den Ausbau von Ernährungsbildung und die Bildung von „Werbekompetenz“ – reicht das aus Ihrer Sicht?

Das kann gar nicht reichen. Die mit den ungesunden Produkten und Marken transportierten Emotionen sind zu stark, als dass Kinder diese hinterfragen würden. Ich würde die knappe Zeit eher auf sinnvollere Lerninhalte legen und die Frage des Schutzes vor Werbung durch andere, deutlich effektivere Maßnahmen herstellen.

Zum Beispiel?

Ganz einfach: An Kinder gerichtetes Marketing für Lebensmittel muss in Deutschland verboten werden. Eltern werden dadurch in ihrer Rolle gestärkt. Dies ist aus meiner Überzeugung der einzige Weg. Wir werden zwangsläufig eine gesetzliche Regelung brauchen.



Dieser Text ist in den foodwatch-Nachrichten 3/2012 erschienen. Die Informationsbroschüre mit aktuellen Themen wird kostenfrei an Mitglieder verschickt. Seien auch Sie dabei und werden Sie Fördermitglied bei foodwatch!