Staatlich legitimierte Verbrauchertäuschung

In der geheim tagenden „Lebensmittelbuch-Kommission“ entscheiden Lobbyisten der Ernährungswirtschaft über weitreichende Vorgaben zur Produktkennzeichnung mit – und können verbraucherfreundliche Regeln blockieren.

Die in der Öffentlichkeit kaum bekannte „Lebensmittelbuch-Kommission“ entscheidet über weitreichende Vorgaben zur Lebensmittelkennzeichnung in Deutschland. In dem geheim tagenden Gremium sitzen Lobbyisten der Ernährungsbranche mit am Tisch und dürfen im Auftrag der Bundesregierung offiziell mitentscheiden, wie Produkte zu kennzeichnen sind. Verbraucher werden durch die Vorgaben der Kommission regelmäßig getäuscht und in die Irre geführt.

Während der Großteil der Kennzeichnungsregeln im Lebensmittelbereich mittlerweile von der EU beschlossen wird, ist ein elementarer Teil nach wie vor national geregelt. Wichtig ist hier vor allem die sogenannte Verkehrsbezeichnung. Was beispielsweise unter einem „aromatisierten Früchtetee“ oder einer „Kalbfleisch-Leberwurst“ zu verstehen ist – und wie diese auf der Schauseite eines Produkts beworben werden (dürfen) – legt weder das Europäische Parlament, noch die EU-Kommission, der Deutsche Bundestag noch die Bundesregierung fest. Dafür ist bislang die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission (DLMBK) zuständig. In dem Gremium sitzen neben Vertretern aus Wissenschaft, Verbraucherorganisationen und Lebensmittelüberwachung auch Interessensvertreter der Lebensmittelbranche. Die Mitglieder werden vom Bundesernährungsministerium jeweils für einen Zeitraum von fünf Jahren berufen.

Veto-Recht für Lebensmittel-Lobby

Beschlüsse der Lebensmittelbuch-Kommission sollen zwar grundsätzlich einstimmig beschlossen werden. Bei strittigen Fragen kann aber jede Gruppe eine Einigung durch sein Veto blockieren. Verbrauchervertreter in dem Gremium beklagen, dass dementsprechend Vorschläge für verbraucherfreundliche Bezeichnungen regelmäßig von den Lobbyisten der Lebensmittelwirtschaft abgelehnt werden.   

Doch weder die Sitzungen selbst noch die Sitzungsprotokolle der Kommission sind öffentlich. Wie welches Mitglied bei einem Beschluss abgestimmt hat, ist geheim. In welchem Fall sich die Lobbyisten der Lebensmittelindustrie erfolgreich durchsetzen und beispielsweise verbraucherfreundliche Leitsätze blockieren, erfährt die Öffentlichkeit deshalb nicht. Eine Klage von foodwatch zur Offenlegung der Sitzungsprotokolle wurde jedoch 2010 zurückgewiesen.

Alaska-Seelachs ohne Lachs – ganz legal

Die Lebensmittelbuch-Kommission ermittelt die „allgemeine Verkehrsauffassung“ – so etwas wie „gängige Praxis“ der Herstellung und Kennzeichnung von Lebensmitteln. Das Gremium erstellt, prüft und überarbeitet dazu sogenannte Leitsätze für Lebensmittel. Diese Leitsätze definieren Herstellung, Beschaffenheit oder sonstige Merkmale von Lebensmitteln und bestimmen vor allem die „Verkehrsbezeichnung“ von vielen Produkten. Leitsätze haben laut Ernährungsministerium „den Charakter objektivierter Sachverständigengutachten“. Sie sollen die Herstellung, Beschaffenheit oder sonstige Merkmale von Lebensmitteln beschreiben – und zwar „unter Berücksichtigung der Erwartung der Durchschnittsverbraucher“. 

Doch immer wieder zeigt sich, dass leitsatzkonforme Produkte, Produktkennzeichnungen und Aufmachungen für Verbraucher irreführend sind. Sie bilden daher offensichtlich nicht die „Erwartung der Durchschnittsverbraucher“ ab. Alaska-Seelachs ohne Lachs, Geflügelwürstchen mit Schweinespeck, Zitronen-Limo ohne Zitronensaft oder Kirsch-Tee ohne einen Hauch von Kirsche – solche haarsträubenden Vorgaben gehen auf das Konto der Lebensmittelbuch-Kommission.



Umstrittene Kommission auf dem Prüfstand

Die Bundesregierung scheint offenbar Handlungsbedarf zu sehen: Zum einen werden im Koalitionsvertrag von Union und SPD vom Dezember 2013 die Empfehlungen der Lebensmittelbuchkommission kritisiert und eine stärkere Orientierung an den Ansprüchen der Verbraucher angemahnt. Zum anderen soll im Auftrag der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) die „gesamte Struktur“ des umstrittenen Gremiums „auf den Prüfstand“ kommen. 

Geheim-Kommission abschaffen!

foodwatch fordert, die Lebensmittelbuch-Kommission komplett abzuschaffen und durch ein transparentes und demokratisches Verfahren zu ersetzen. In dem geheim tagenden Gremium sitzen die Lobbyisten der Ernährungsbranche mit am Tisch und dürfen im Auftrag der Bundesregierung offiziell mitentscheiden, wie Lebensmittel zu kennzeichnen sind. Verbraucher werden durch die Vorgaben der Kommission regelmäßig in die Irre geführt. Diese staatlich legitimierte Verbrauchertäuschung muss gestoppt werden. Wie Lebensmittel zu kennzeichnen sind, muss der Gesetzgeber festlegen – kein Geheim-Gremium, in dem die Lobbyisten der Lebensmittelwirtschaft verbraucherfreundliche Regelungen blockieren können.

Folgende Maßnahmen sind aus Sicht von foodwatch notwendig:

1. Die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission muss abgeschafft werden

Der Gesetzgeber muss festlegen, wie Lebensmittel zu kennzeichnen sind. Die Initiative für (verbindliche) Leitsätze sollte bei einer oberen Bundesbehörde wie dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) liegen.

2. Verbrauchererwartung anstatt „allgemeine Verkehrsauffassung“      

Die Verbrauchererwartung und nicht die „allgemeine Verkehrsauffassung“ unter Experten sollte ausschlaggebend für die Festlegung der Verkehrsbezeichnungen sein. Deshalb müssen in Zukunft repräsentative Verbraucherbefragungen zur Ermittlung der durchschnittlichen Verbrauchererwartung obligatorisch für die Leitsatz-Entwicklung werden.

3. Transparentes Konsultationsverfahren

Wenn das BVL einen Leitsatz-Entwurf entwickelt hat, sollen die bisher beteiligten Kreise der Lebensmittelbuch-Kommission im Anschluss öffentlich und somit transparent konsultiert und auf diese Weise eingebunden werden.

4. Erweiterung der Verbandsklagerechte

Verbraucherverbände müssen die Möglichkeit erhalten, durch erweiterte Verbandsklagerechte Leitsätze gerichtlich überprüfen zu lassen (Normenkontrollverfahren). Die guten Erfahrungen im Umweltrecht zeigen, dass das Verbandsklagerecht praktikabel ist und das Gemeinwohl effektiv schützt.