Nachricht 09.09.2004

Dünne Diskussion um dicke Kinder

Seit dem 25.06.2004 hat Deutschland eine "Plattform für Ernährung und Bewegung". Damit will die Bundesregierung dem "bedrohlichen Anstieg von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen effektiver als bisher" begegnen.

Doch die Gründungsgeschichte der Plattform, ihre Zusammensetzung und ihre Zielrichtung lassen keine mutigen Taten erwarten. Im Januar 2004 hatte Verbraucherministerin Renate Künast angekündigt, die Ernährungsindustrie zu Zwangszahlungen in einen Fonds zu verdonnern. Damit wolle man Aufklärungskampagnen für eine bessere Ernährung finanzieren. Kurz darauf einigten sich die auf Kosteneinsparungen bedachten Krankenkassen mit der Ernährungsindustrie auf eine gemeinsame Linie. Die Industrie wolle jedoch bei einem Fonds "Einfluss auf die Verwendung der Mittel nehmen", meldete der Berliner Tagesspiegel. Nun gibt es also die "Plattform", die der Lebensmittelchemiker Udo Pollmer als "künastschen Werbegag" bezeichnet.

Die Ernährungs-Plattform soll auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse "die relevanten Lebensbereiche von Kindern und Jugendlichen" erfassen, so das BMVEL. Dafür hat sich das Ministerium zusammen getan mit dem BLL (Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e.V., die Top-Lobbyisten der Lebensmittelindustrie), Deutschem Sportbund, mit Krankenkassen, Gewerkschaften, Kinderärzten und der CMA (Centrale Marketing-Gesellschaft der Deutschen Agrarwirtschaft, die mit Slogans wie "Kleine Schweinerei gefällig?" für mehr Fleischkonsum wirbt).

Höhere Steuern für Zucker?

Im Dezember 2003 hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Regierungen empfohlen, Zucker, Salz und Fett höher zu besteuern. Außerdem sollten sie in Schulen gesundes Essen und mehr Sport anbieten und gegen die ausufernde, auf Kinder zugeschnittene Werbung für Essen und Trinken vorgehen.

Anfang dieses Jahres wurde eine dänische Studie vorgestellt, die das Gewicht von 30.000 Dreizehn- bis Fünfzehn-Jährigen aus den USA, Israel und 13 europäischen Ländern verglich. Demzufolge leben die dicksten Kinder in den USA, die dünnsten in Litauen und deutsche Teenager gewichtsmäßig im Mittelfeld. Schuld an der Leibesfülle der US-Teenager sind laut Studie Fastfood wie Hamburger und Pizza, Zwischenmahlzeiten aus Kartoffelchips und Schokoriegeln sowie Bewegungsmangel. Litauens Jugend sei schlank, weil Fastfood & Co. dort fehlten, mutmaßen die Autoren der Untersuchung.

Dicke Kinder

Dicke Kinder gibt es laut BMVEL "gerade auch in sozial schwächeren Bevölkerungsschichten und in Migrantenfamilien". Doch statt eine Debatte über die Auswirkungen von Hartz-Reformen, unterfinanzierten staatlichen Schulen oder fehlenden Kinderbetreuungs-Einrichtungen auf das Ernährungsverhalten von Kindern anzuschieben, ergeht sich Renate Künast in medienwirksamen Symbolhandlungen. Und statt kritischer Auseinandersetzungen über kalorienreiche Werbebotschaften, gefährliche Farb- und Zusatzstoffe oder intransparente Qualitätsstandards können Regierung und Konzerne jetzt gemeinsam Dauerläufe und Kochkurse zur Gesundheitsertüchtigung durchführen.

Aufgabe von echter Ernährungspolitik wäre es, tatsächliche Verantwortlichkeiten und deren Grenzen in einer politischen Debatte zu ermitteln. Am Ende dieser Debatte muss klar sein, welche Verantwortung die Lebensmittelwirtschaft trägt, welche die Verbraucher und welche Gesetzgeber und Regierung. Aufgabe besonders der Ernährungsministerin wäre es, diese Debatte zu befeuern.