Nachricht 30.03.2020

Wilke-Skandal: foodwatch stellt Strafanzeige gegen Ministerin und Landrat

In dem Fall um Listerien-belastete Wurst der Firma Wilke hat foodwatch Strafanzeige gegen die hessische Verbraucherschutzministern Priska Hinz, dem Landrat des Landkreises Waldeck-Frankenberg, Reinhard Kubat, sowie gegen weitere politische Verantwortliche in Hessen gestellt. 

foodwatch wirft den Entscheidungsträgern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Ministerium und Behörden pflichtwidriges Handeln und gravierende Verstöße gegen das Lebensmittelrecht vor. Etliche Entscheidungen haben wesentlich zu dem Listerien-Fall beigetragen, mit dem mindestens 38 Erkrankte und drei Todesfälle in Verbindung gebracht werden. Die Strafanzeige liegt nun bei der Staatsanwaltschaft Kassel, die über weitere Schritte entscheidet.

Mangelndes Personal, mangelnde Unabhängigkeit

In Hessen mangelte es bereits im Vorfeld des Skandals grundsätzlich und speziell im Landkreis Waldeck-Frankenberg  an den strukturellen und personellen Voraussetzungen für funktionierende Lebensmittelkontrollen. Dem Landkreisamt hat es zudem an der nötigen Unabhängigkeit gefehlt. Wenn Hygiene- oder bauliche Mängel bei Wilke auffielen, sind diese nicht hinreichend abgestellt oder sogar geduldet worden – das Regierungspräsidium Kassel und das hessische Verbraucherschutzministerium als Fachaufsicht haben nicht eingegriffen. 

Es wäre richtig, wenn nicht nur gegen Wilke-Vertreter, sondern auch gegen die Behördenverantwortlichen ermittelt wird, deren schwere Versäumnisse ganz entscheidend für einen mangelhaften Verbraucherschutz waren.
Martin Rücker Geschäftsführer von foodwatch Deutschland

Auch im akuten Krisenmanagement bei Wilke kam es zu schweren Fehlern: Mehrfach im Jahr 2019 entschieden die Behörden nach Listeriennachweisen auf Wilke-Produkten, die Öffentlichkeit nicht zu informieren – nach Einschätzung von foodwatch gravierende Fehlentscheidungen, die auch zeigen, wie nötig eine gesetzliche Klarstellung ist: Künftig sollte im deutschen Lebensmittelrecht eine Verpflichtung der Behörden verankert werden, vor potenziell gesundheitsgefährdenden Produkten öffentlich zu warnen - ohne jeden Ermessensspielraum.

Mehr als 270 Seiten Behördendokumente zum Wilke-Fall 

foodwatch stützt seine Strafanzeige auf öffentlich verfügbare Informationen und auf eigene Recherchen – so auch auf mehr als 270 Seiten bisher öffentlich unbekannte Behördendokumente, die hier als zip-Download zu finden sind. Die Dokumente enthalten zahlreiche amtliche Berichte von Kontrollen bei der Firma Wilke aus den Jahren 2018 und 2019 sowie Sachstandsberichte und Korrespondenz zwischen den beteiligten hessischen Behörden, vor allem Ministerium, Landkreis Waldeck-Frankenberg und Regierungspräsidium Kassel. Die Dokumente zeichnen das Bild einer lückenhaften und ineffektiven Kontrolle durch den Landkreis. Zudem entsteht mehrfach der Eindruck, dass der Landkreis versuchte hat, das Unternehmen zu schützen und die Mängel zu beschönigen. 

Die gut 270 Seiten zeigen: 

  • Mehr als einmal gab es erhebliche Missstimmungen zwischen den Behörden. So beschwerte sich am 27. September 2019 und damit wenige Tage vor der Betriebsschließung ein Landkreis-Vertreter, dass das Protokoll einer Behördenbesprechung „ohne vorherige Absprachen“ in seiner Endfassung verschickt worden sei – er selbst sei „höchst interessiert“ an einer „sachlichen und konstruktiven Zusammenarbeit“ und die Firma Wilke sei es „ebenso“. Zuvor hielt ein Verantwortlicher im Regierungspräsidium Kassel fest: „Der Landrat hat mich […] zu keiner Zeit über schwerwiegende Hygienemängel informiert. Vor und nach der Besprechung [am 5.9.2019; Anm. foodwatch] waren mir die später vom Landrat dokumentierten gravierenden Mängel nicht bekannt. Vielmehr ging ich […] davon aus, dass die Probleme nicht so gravierend seien, sondern in den Griff zu bekommen wären.“
  • Bereits Ende August 2019 lagen den hessischen Behörden bis hinauf ins Ministerium „Liefer- und Produktlisten“ von Wilke vor; erneut wurden Ende September „Lieferlisten der Firma Wilke“ ausgetauscht – jene Angaben, die sie bis heute nicht öffentlich machten, obwohl sie den Verbraucherinnen und Verbrauchern konkrete Hinweise auf die wegen einer möglichen Listerienbelastung zurückgerufenen Produkte hätten geben können. 
  • Kontrolleure fanden bei Wilke im August und September 2019 auch Lebensmittel, „deren Mindesthaltbarkeitsdatum zum Teil über Jahre abgelaufen war“. Insgesamt entsteht aus den annähernd 20 Kontrollberichten von 2018 und 2019 der Eindruck, als sei z.T. nur punktuell kontrolliert worden (einzelne Räume statt großflächig) und als habe das Unternehmen dabei nicht immer besonders kooperativ agiert. Zitat aus dem Kontrollbericht vom 28. August 2019: „Der Konfiskatraum wurde offensichtlich vor Kontrolle mit einem Bügelschloss verschlossen. Auf Drängen fand man den Schlüssel – hier herrschte das reinste Chaos. Der Raum war gefüllt mit völlig vergammelter Ware, Schimmel, Fäulnis, Gestank... am Boden war eine stinkende Flüssigkeit, durch diese Flüssigkeit fuhr man nach den Spuren zu bemessen mit Gefährt Ware nach draußen (Konfiskat?), anschließend wieder durch die stinkende Flüssigkeit in ‚reine Räume‘.“ [Anm. foodwatch: Unter Konfiskat werden üblicherweise Schlachtabfälle und andere tierische Bestandteile verstanden, die zur Entsorgung bestimmt sind.]
  • Allein im Jahr 2019 verhängte der Landkreis Wadeck-Frankenberg vier Mal Bußgelder (jeweils in vierstelliger Größenordnung) gegen die Firma Wilke. Diese führten erkennbar nicht dazu, dass das Unternehmen anschließend die lebensmittelrechtlichen Vorgaben einhielt. Nach Einschätzung von foodwatch verstieß der Landkreis zudem gegen die Pflicht zur Veröffentlichung von nicht unerheblichen Verstößen mit Bußgeldern in dieser Größenordnung.
  • Die Zusammenarbeit mit dem (nach der Betriebsschließung) eingesetzten Insolvenzverwalter war aus Sicht der Behörden offenbar problematisch. In den Behördendokumenten ist „mangelnde Mitarbeit und Erreichbarkeit“ notiert; nachdem der Insolvenzverwalter die Entsorgungspflichten der gesperrten Wilke-Produkte offenbar in Frage gestellt hat, fragte der Landkreis beim Ministerium an, ob Wilke-Ware „ggf. an Tiere in Wildparks verfüttert werden könne“ – dies wurde letztlich abschlägig beschieden.