Nachricht 14.04.2023

„Tierwohl“ ist ausschließlich ein Marketinginstrument

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Professor Dr. Albert Sundrum ist Veterinärmediziner und Agrarwissenschaftler. Sein neues Buch behandelt die „Gemeinwohlorientierte Erzeugung von Lebensmitteln“. Im foodwatch-Interview erklärt er, warum Haltungskennzeichnungen in die Irre führen und welche fatalen Auswirkungen der Unterbietungswettbewerb auf den Weltagrarmärkten hat - für Tiere, Umwelt und uns Verbraucher:innen.

foodwatch: Viele Verbraucherinnen und Verbraucher würden gern durch den Kauf von entsprechend gekennzeichneten Produkten Tierschutzanliegen unterstützen. Was macht diesen naheliegenden Wunsch so schwierig?

Prof. Dr. Albert Sundrum: Tierschutz ist eine hochkomplexe Angelegenheit, an der sehr viele Faktoren beteiligt sind. Wichtig zu wissen ist: Tierschutzanliegen kann man nicht lediglich auf einen Aspekt wie die Haltungsform reduzieren. Wir müssen das Tier selbst in den Fokus nehmen. Wie gut kommt es mit seinen konkreten Lebensbedingungen zurecht, ohne Schmerzen, Schäden und Leiden erdulden zu müssen.

Haltungsformen führen in die Irre und stellen eine Verbrauchertäuschung dar.
Prof. Dr. Albert Sundrum Veterinärmediziner und Agrarwissenschaftler

foodwatch: Heißt das, die vom Einzelhandel beworbenen Haltungsformen geben Verbraucher:innen keine hinreichende Orientierung?

Prof. Sundrum: Haltungsformen führen in die Irre und stellen eine Verbrauchertäuschung dar. Die Kennzeichnung der Haltungsform, die sich ja im Wesentlichen auf die verfügbare Bewegungsfläche im Stall und im Auslauf sowie auf Einstreu und Außenklima beschränkt, erlaubt keine validen Rückschlüsse auf das Wohlergehen der Nutztiere. Dies wird insbesondere in der ökologischen Nutztierhaltung deutlich, die ja die höchste Haltungsformstufe repräsentiert. Trotz deutlich besserer Haltungsbedingungen sind auch hier die Erkrankungsraten erschreckend hoch und auf dem gleichen Niveau wie bei Betrieben mit deutlich geringerer Flächenausstattung. Nun ist zwar das Freisein von Gesundheitsstörungen nicht allein ausschlaggebend, aber ohne Freisein von Störungen kann es kein Wohlergehen der Tiere geben. Das eine schließt das andere aus. 

foodwatch: Geht es den Nutztieren auf Öko-Betrieben nicht trotzdem besser als Tieren auf anderen Betrieben?

Prof. Sundrum: Dies trifft de facto nur für die Tiere zu, die auf Ökobetrieben frei von Gesundheits- und Verhaltensstörungen sind. Nur dann profitieren sie bei erhöhter Bewegungsfläche davon, ihr arteigenes Verhalten besser ausleben zu können. Um sich wohlzufühlen, müssen die Tiere nicht nur frei von äußerlich sichtbaren, sondern auch von nicht unmittelbar erkennbaren Krankheiten sein. Fachleute sprechen von inapparenten Krankheiten – wie zum Beispiel Brustbeinfrakturen bei Legehennen, Magengeschwüre und Lungenentzündungen bei Schweinen oder Entzündungen der Milchdrüse bei den Milchkühen. Aus Verbrauchersicht sollte man nicht vergessen, dass Produkte von kranken Tieren minderwertig sind. Sie kaufen also ein vermeintlich hochwertiges Produkt zu einem deutlich höheren Preis, bei dem eine Chance von etwa 50 zu 50 besteht, dass ihre Erwartungen nicht erfüllt werden. Wie in allen Betrieben fehlt nämlich auch im Ökosektor für die Nutztierhalter der Anreiz, die gesundheitliche Situation auf den Betrieben konsequent so zu verbessern, dass Schmerzen, Leiden und Schäden bei den Nutztieren so weit als irgend möglich vermieden werden. Ökohaltung bietet also keine Gewähr für gelungenen Tierschutz. 

foodwatch: Versagt also der Markt beim Tierschutz?

Prof. Sundrum: Definitiv ja. Die Verbesserung des Tierschutzes, ebenso wie des Natur-, Umwelt- und Klimaschutzes, liegt beim Lebensmittelhandel in den falschen Händen. Handelsketten haben das vorrangige wirtschaftliche Interesse, die Rohwaren möglichst billig zu „Weltmarktpreisen“ einzukaufen und mit der bestmöglichen Rendite zu verkaufen. Dabei muss man wissen, dass die Verkaufspreise der Produkte nichts über die erzielten Renditen aussagen, denn es geht immer um Mischkalkulationen. Grundsätzlich hat dies zur Folge, dass der Handel den deutschen Landwirten zu wenig zahlt, um die Landwirte zu befähigen, die Situation der Nutztiere auf den Betrieben deutlich und objektiv nachprüfbar zu verbessern. Zugleich redet der Handel den Verbrauchern mit Markenprodukten und Labeln ein, sie könnten Produkte kaufen, die ihren Erwartungen entsprechen. Der Hinweis auf „Tierwohl“ ist ausschließlich ein Marketinginstrument. Trotz des Marktversagens lässt der Staat, der ja gemäß Grundgesetz für den Schutz der Tiere zu sorgen hat, den Handel nicht nur gewähren, sondern übernimmt mit dem angekündigten staatlichen Haltungskennzeichen sogar diese rein marktorientierte Vorgehensweise.

foodwatch: Welche Optionen bleiben den Verbraucher:innen stattdessen? 

Prof. Sundrum: Der Verbraucher kann aktuell im Supermarkt nicht erkennen, welche Produkte von gesunden Tieren stammen. Der Anspruch auf Produkte von gesunden Tieren muss deshalb gesetzlich verankert werden. Es ist klar, dass solche Produkte, die echte Tierschutz-Qualität darstellen, höhere Preise kosten werden. Umso wichtiger ist es, dass diese Forderung immer wieder öffentlichkeitswirksam an die Verantwortlichen in der Politik adressiert wird, die gemäß Grundgesetz für den Schutz der Tiere zu sorgen haben. 

foodwatch: Ist es angesichts der Probleme im Nutztierbereich nicht naheliegender, ganz auf den Verzehr von Produkten tierischer Herkunft zu verzichten?

Prof. Sundrum: Es ist naheliegend, wenn vor allem junge Menschen diese Schlussfolgerung ziehen. Jedoch sollte allen, die vegan leben oder sich für Veganismus einsetzen, klar sein, dass sich die Probleme im Nutztierbereich durch individuelle Konsumentscheidungen nicht lösen lassen. Sie können sogar noch anwachsen. Denn für die Nutztierhalter in Deutschland ist die inländische Nachfrage – solange sie nicht qualitativ hochwertige und höherpreisige Produkte betrifft – kein Entscheidungsfaktor. Sie müssen die Rohwaren ohnehin zu Weltmarktpreisen erzeugen. Die Nachfrage nach von Tieren stammenden Lebensmitteln steigt weltweit an, so dass die Rohwaren auch weiterhin auf dem EU-Binnenmarkt und auf dem Weltmarkt verkauft werden können. Die EU ist der weltgrößte Exporteur von Fleisch- und Milcherzeugnissen. Konkretes Beispiel: Aktuell werden bereits 45 Prozent des in Deutschland erzeugten Schweinefleisches exportiert. Der Veganismus ändert folglich nichts an den Schmerzen, Leiden und Schäden, denen Nutztiere in Deutschland und in der EU schon seit vielen Jahren ausgesetzt sind.

foodwatch: Sie haben die Gesamtproblematik in einem kürzlich erschienenen Buch systematisch untersucht. Was sind ihre wichtigsten Befunde und – haben Sie einen Lösungsvorschlag?

Prof. Sundrum: Die Nutztierhaltung – Agrarökonomen nennen sie weiterhin „Tierproduktion“ – wird seit Jahrzehnten von dem Versuch dominiert, durch Steigerung der Produktionsleistungen und Minimierung von Kosten und Aufwendungen mit den anderen Anbietern auf den Weltmärkten konkurrenzfähig zu sein. Dieser Unterbietungswettbewerb, dem bereits das Gros der deutschen Landwirte zum Opfer gefallen ist, geht nicht nur zu Lasten der Tiere und der Nutztierhalter, sondern läuft auch in sehr vielen Umweltbereichen den Gemeinwohlinteressen diametral zuwider. In meinem Buch „Gemeinwohlorientierte Erzeugung von Lebensmitteln“ lege ich dar, wie eine evidenzbasierte Qualitätserzeugung einen Ausweg aus dem zerstörerischen Streben nach Kostenminimierung bieten kann.

Prof. Dr. Albert Sundrum ist Veterinärmediziner und Agrarwissenschaftler. Bis zu seiner Pensionierung (10/2022) war er Leiter des Fachgebietes Tierernährung und Tiergesundheit an der Universität Kassel.

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