Nachricht 10.10.2018

Kakao-Sumpf: Lobbyismus auf Kosten der Kindergesundheit

Ein Schulmilchprogramm im Lobby-Sumpf: foodwatch hat den Schulmilch-Report in Düsseldorf vorgestellt. Dieser entlarvt jahrzehntelange Verflechtung zwischen Milchwirtschaft, Wissenschaftlern und Politik in NRW. Das Schulmilchprogramm ist vor allem Absatzförderung für die Milchwirtschaft. Die Leidtragenden davon sind die Kinder.

Eine Landesregierung beauftragt Lobbyisten, Werbung an Schulen zu machen – und stattet sie dafür mit Steuergeldern aus. Ein Abgeordneter kritisiert von der Oppositionsbank aus die gezuckerten Schulmilchprodukte, nur um später, als Minister, vom Kakao zu schwärmen – im Interview mit dem Molkereikonzern Friesland Campina („Landliebe“). Ein kleines Grüppchen Wissenschaftler zieht auf Werbetour für den Schulkakao und hantiert dabei mit dubiosen Auftragsstudien, die den Kakao als gesund darstellen. In ihrem am Mittwoch in Düsseldorf vorgestellten Report „Im Kakao-Sumpf: Von gekauften Studien bis zur wundersamen Partnerschaft von Milchwirtschaft und Politik“ hat foodwatch auf mehr als 80 Seiten jahrzehntelange Verflechtungen zwischen Milchwirtschaft, Wissenschaftlern und Politik entlarvt. Am Beispiel Nordrhein-Westfalen stellt die Verbraucherorganisation dar, wie das Schulmilchprogramm alles einem Ziel unterordnet: der Förderung des Milchabsatzes.

Bei der Schulkakaoförderung geht es zu allerletzt um die Gesundheit der Kinder – es ist ein durch und durch lobbyverseuchtes Absatzförderungsprogramm für die Milchwirtschaft. Weil sich Milch fast nur als Kakao an den Schulen verkaufen lässt, wird die Extraportion Zucker eben billigend in Kauf genommen.

Unsere Recherchen zeigen eine kaum vorstellbare Verflechtung zwischen Auftragsforschern, Milchwirtschaft und Politik – über Jahrzehnte und Parteigrenzen hinweg. Bei vielen Lobbyisten würden die Sektkorken knallen, wenn sie auch nur ein bisschen Werbung in den Schulen machen dürften – die Milchwirtschaft in NRW bekommt nicht nur den offiziellen Auftrag der Landesregierung, sondern auch noch Steuergelder, um Werbung für ihre Produkte direkt im Unterricht zu machen.
Martin Rücker Geschäftsführer von foodwatch

Der foodwatch-Report geht der Frage nach, weshalb eine Landesregierung in ihrem Schulmilchprogramm weiterhin gezuckerten Kakao steuerlich fördert – obwohl Kinderärzte, Zahnmediziner und Ernährungsexperten das Gegenteil fordern.

Die wichtigsten Rechercheergebnisse

  • Die Landesvereinigung der Milchwirtschaft NRW hat den offiziellen Auftrag der Landesregierung, „Werbung zur Erhöhung des Verbrauchs von Milch“ zu machen – „insbesondere“ auch durch „Förderung des Schulmilchabsatzes“. Grundlage dafür ist ein Erlass des Landesumweltministeriums auf Basis eines Bundesgesetzes aus der Nachkriegszeit, als die Milchwirtschaft gefördert und Kinder gepäppelt werden sollten.
  • Das Land bezahlt der Milchlobby jährlich rund 350.000 Euro, um Unterrichtseinheiten und Lehrmaterialien zu gestalten, Marketingveranstaltungen in den Schulen durchzuführen und mit einem „Schulmilchteam“ das Schulmilchprogramm zu bewerben. Das im Gegenzug für die EU-Zuschüsse für Schulmilchprodukte geforderte pädagogische „Begleitprogramm“ wird praktisch vollständig von der Milchwirtschaft durchgeführt – was das Land erheblich billiger kommt als ein neutrales, interessenunabhängiges Programm zur Ernährungsbildung. 
  • Bei gesundheitlichen Fragen zum Beispiel zum Zuckergehalt verweist das Land NRW auf interessengeleitete Informationen der Landesvereinigung der Milchwirtschaft. Bis vor wenigen Jahren war der Lobbyverband im Impressum der offiziellen Schulmilchseite des Umweltministeriums sogar ganz unverblümt als verantwortlich für die „inhaltliche Betreuung“ aufgeführt. Interne Protokolle von Treffen zwischen Ministerium und Milchlobby, die foodwatch über das Informationsfreiheitsgesetz erhalten hat, belegen, dass es auch bei der aktuellen Website eine enge Abstimmung gab. Zudem finden sich wortgleiche Passagen in Landespublikationen und auf PR-Seiten des Milchverbandes – in denen zum Beispiel erklärt wird, weshalb der Zucker in den Milchprodukten kein Problem sein soll.

Der Schulmilch-Report: „Im Kakao-Sumpf“

Fotostrecke
  • Die Gewinne der Schulmilchlieferanten sind abhängig vom Kakao. Das Land hat bislang keine offiziellen Zahlen für Schulen genannt. Die Protokolle der Treffen zwischen dem Landesumweltministerium und Milchwirtschaft weisen jedoch darauf hin, dass zuletzt 80 bis 90 Prozent der an den Schulen verkauften Trinkpäckchen gezuckerte Milchprodukte waren. Lieferanten wie Landliebe drohen mit einem Stopp der Schulmilchlieferung, wenn Kakao nicht länger gefördert wird. Der Schulmilch-Kakao von Marktführer Landliebe hat einen Zuckergehalt von 8,7 Prozent und bewegt sich damit fast auf dem Niveau von Fanta. Viele Schulkinder nehmen über die 250-Milliliter-großen – mit Steuergeldern subventionierten – Kakao-Trinkpäckchen jeden Tag mehr als sieben Stück Würfelzucker zu sich.
  • Mit dubiosen Studien gibt die Milchwirtschaft vor, positive Effekte von gezuckertem Kakao für die „geistige Leistungsfähigkeit“ und die Zahngesundheit belegen zu können. Tatsächlich halten diese Studien – größtenteils Auftragsarbeiten für die Milchwirtschaft, die auf drei untereinander eng vernetzte Forscher zurückgehen – einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Sie arbeiten mit winzigen Probandenzahlen, stellen Ergebnisse grafisch verzerrt dar oder vergleichen beispielsweise die Konzentrationsfähigkeit von Schülern nach dem Kakaokonsum gegenüber Schülern mit gänzlich nüchternem Magen. Auf solchen Grundlagen wird schließlich zum Beispiel behauptet, Kakao könne die Intelligenz der Kinder um „7 IQ-Punkte“ steigern, für bessere PISA-Test-Ergebnisse und bessere Schulnoten sorgen. Grundlage für solche Aussagen ist ein zweifelhaftes Messverfahren des unter Fachkollegen berüchtigten Psychologen Siegfried Lehrl – der bereits ein „Pflichtkaugummi“ im Unterricht forderte, weil auch das Kaugummikauen angeblich die Intelligenz der Schülerinnen und Schüler steigern soll.

Für foodwatch ist es inakzeptabel, dass das Land NRW ausgerechnet diejenigen mit der Ernährungsbildung in Schulen und der Gesundheitsaufklärung beauftragt, die mit solch dubiosen Studien versuchen, gezuckerte Produkte gesundzuwaschen.

Wer ernsthaft eine gute Ernährung für Kinder fördern will, der investiert kein Steuergeld für zuckrigen Kakao, sondern kommt auf ganz andere Ideen: Der setzt die offiziellen Qualitätsstandards für die Mittagsverpflegung an allen Schulen durch, der lässt alle Schulen am Obst- und Gemüseprogramm teilnehmen oder fördert, wo nötig, ausgewogene Frühstücksangebote.
Martin Rücker Geschäftsführer von foodwatch

Das fordert foodwatch

foodwatch forderte die nordrhein-westfälische Umweltministerin Ursula Heinen-Esser auf, die steuerliche Förderung von gezuckerten Schulmilchgetränken unmittelbar zu stoppen und die Zusammenarbeit mit der Landesvereinigung der Milchwirtschaft bei Schulprogrammen zu beenden.