Nachricht 15.03.2012

Medienecho: „Lasst die Kinder in Ruhe“

Großes Echo auf den foodwatch-Report über Kinderlebensmittel: Medien widmeten dem Thema zahlreiche Berichte, vor allem jedoch beginnt die Debatte über Konsequenzen. Politik, Wirtschaft und Kommentatoren diskutieren über die richtigen Maßnahmen zur Regulierung des fehlgesteuerten Marktes für Kinderprodukte.

Viel Resonanz auf den foodwatch-Report „Kinder kaufen – Wie die Lebensmittelindustrie Kinder zur falschen Ernährung verführt, Eltern täuscht und die Verantwortung abschiebt“: Etwa 70 Journalisten besuchten unsere Pressekonferenz in Berlin, von ARD bis ZDF, von FAZ bis taz widmeten die Medien dem Thema große Berichte. Vor allem den Marktcheck mit mehr als 1.500 Produkten griffen sie auf. „Fast alle Kinderlebensmittel sind zu süß und fett“, titelte Spiegel Online und brachte den Text ganz oben auf seiner Startseite. Ebenso prominent berichteten stern.de („Voll auf Zucker, voll fett") und die Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung über den „Profit auf Kosten der Kinder“.

Frontal21 (ZDF) nahm den foodwatch-Report zum Anlass für eine kritische Betrachtung von Werbe- und Marketingstrategien der Lebensmittelindustrie, foodwatch-Mitarbeiterin Anne Markwardt war abends zu Gast im Studio der rbb-Sendung zibb. Zuvor hatte bereits die ARD-Tagesschau einen Beitrag gesendet, BILD folgte mit großen Lettern auf Seite 1.

Debatte über Konsequenzen angestoßen

Großer Andrang bei der Vorstellung des foodwatch-Reports...

Noch wichtiger als dieses Medienecho: Die so wichtige Debatte über die Probleme bei der Kinderernährung, das Produktangebot für Kinder und die Verantwortung der Lebensmittelindustrie ist in Gang gekommen. Auch Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner äußerte sich zum foodwatch-Report. Kinder könnten ganz normale Lebensmittel wie Quark und Gemüse verzehren, sagte die CSU-Politikerin – spezielle Kinderlebensmittel seien für Kinder ab dem ersten Lebensjahr gänzlich überflüssig. Politischen Handlungsbedarf sieht die Ministerin aber offenbar nicht, von Vorgaben für die Industrie sprach sie nicht. Zwar trage die Wirtschaft bei der Werbung für Lebensmittel eine besondere Verantwortung, ließ Aigner einen Sprecher erklären – „in erster Linie“ sehe sie aber die Eltern in der Verantwortung: „Ein Dreijähriger geht schließlich nicht selbst zum Einkaufen in den Supermarkt.“

FDP-Gesundheitspolitiker: „Generation Ü-Ei auf Diät setzen“

Eine Aussage, die für Krach in der Koalition sorgte. Der FDP-Gesundheitsexperte Erwin Lotter kritisierte die Kommunikation des Aigner-Ministeriums als „abenteuerlich verharmlosend“: „Natürlich steht ein Dreijähriger nicht selbst zum Bezahlen an der Kasse – sondern davor, und quengelt, weil in seiner Augenhöhe die Schokoriegel ausliegen.“ Der Bundestagsabgeordnete forderte, die Industrie an den im Gesundheitssystem anfallenden Folgekosten ihrer Produkte zu beteiligten. Einschränkungen für Werbung sowie „das Verbot bestimmter Waren- und Werbekonstellationen“ müsse geprüft werden, so Lotter. Damit will er die „Generation Ü-Ei auf Diät setzen“, denn: „Kinder mit Spielzeug zu ködern, um sie mit Zucker zu mästen, ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein Geschäft auf Kosten der Kinder.“

SPD und Grüne für Einschränkung der Kinderwerbung

Die Bundestagsfraktionen von Grünen und SPD sprachen sich für ein „Verbot“ bzw. eine „Eindämmung der Kinderwerbung“ aus. Das sehen – wenig überraschend – der Spitzenverband der Lebensmittelindustrie (BLL) und der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) ganz anders. ZAW-Hauptgeschäftsführer Manfred Parteina griff foodwatch direkt an: Es sei an der Zeit, „die Hintergründe der rabulistischen Informationsstrategie von foodwatch zu hinterfragen“ – von der eigenen Verantwortung für Werbung an Kinder ist in der Stellungnahme keine Rede. Der in wissenschaftlichen Studien längst belegte Zusammenhang zwischen stark kalorischen Lebensmitteln und Übergewicht sei lediglich „konstruiert“, heißt es da weiter – schließlich gebe es gar keine ungesunden Lebensmittel, „sondern nur unausgewogene Ernährung und mangelnde Bewegung“. Fragt sich bloß, woher die unausgewogene Ernährung kommt, wenn es angeblich nur gesunde und ausgewogene Lebensmittel gibt.

Industrielobby will Spaß und Lebensfreude vermitteln

Der BLL warnt vor einer „irrationalen Zucker- und Fett-Hysterie“ und sieht seine „unmittelbare Verantwortung“ in der „Produktion geschmackvoller, hochwertiger und sicherer Lebensmittel, die auch Spaß machen und zu mehr Lebensfreude beitragen“ – offenbar nicht in einer ausgewogenen Ernährung für Kinder. Ein Problem will der Lobbyverband nicht so recht erkennend, die aus dem foodwatch-Report abgeleiteten Forderungen hält der BLL dementsprechend für „überzogen“.

Das sehen viele Journalisten anders. Einschränkungen bei den Marketingaktivitäten sind das Hauptthema in den Kommentarspalten, wenn es um Kinderlebensmittel geht. Die Diskussion läuft durchaus kontrovers. Es sei „gerechtfertigt, wenn die Verbraucherorganisation Foodwatch den Herstellern von Frühstücksflocken, Kinderjoghurts und Schokoriegeln eine Mitschuld am Übergewicht vieler Kinder in Deutschland gibt“, schreibt Bob Geisler im Hamburger Abendblatt. Ein Werbeverbot für Kinderlebensmittel führe aber „zu weit“. foodwatch hatte sich angesichts der bekannten Ernährungsprobleme dafür ausgesprochen, Schulen und Kindergärten zu werbefreien Räumen zu machen und für unausgewogene Produkte keine Marketingaktivitäten mehr zuzulassen, die sich gezielt an Kinder richten.

Aigner „zynisch“ und „weltfremd“

Während die Mitteldeutsche Zeitung auf Aufklärung („sofern nicht von Lebensmittelkonzernen gesponsert") statt auf Werbeeinschränkungen setzt, kommt die Süddeutsche Zeitung zu dem Schluss: „An einem gesetzlichen Verbot von Werbung, die sich direkt an Kinder richtet, führt kein Weg vorbei." Überschrieben ist der Kommentar von Silvia Liebrich mit dem Appell: „Lasst die Kinder in Ruhe".

Auch die Westfalenpost hält Regulierung für erforderlich – und schlägt Warnhinweise auf den Packungen unausgewogener Produkte vor. Die Zeitung wirft Ilse Aigner Versagen vor: „Der Hinweis der Ministerin, Eltern hätten es in der Hand, Quark und Gemüse zu servieren, klingt nicht nur zynisch, er ist auch noch weltfremd. In unserer konsumorientierten Welt lässt es sich kaum durchsetzen, allen Angeboten zu widerstehen. Eltern müssen auf die Gesundheit ihrer Kinder achten, selbstverständlich. Aber sie müssen sich und die Kinder nicht zu Außenseitern in der Gesellschaft machen, um ihren Anspruch nach gesunder Ernährung durchzusetzen.“