Nachricht 31.03.2011

„Lehrstück über absurden Verbraucherschutz“

„Wirre Verbraucherpolitik“, „PR-Debakel“, „bizarr“ – auch in der Medienberichterstattung gibt es viel Kritik an der europäischen Grenzwert-Politik nach dem Atom-Unglück von Fukushima. Dass für Lebensmittel aus Japan jetzt laschere Grenzwerte gelten als die bislang angewendeten, streiten Bundesverbraucherministerium und EU-Kommission ab. Ohne Not trägt eine solch lückenhafte Informationspolitik zur Verunsicherung der Verbraucher bei.

Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner greift durch. Diesen Eindruck will die CSU-Politikerin jedenfalls mit aller Kraft vermitteln. Öffentlichkeitswirksam nahm sie am Frankfurter Flughafen selbst den Geigerzähler in die Hand, um ankommende Waren auf ihre Strahlenbelastung zu testen. Und das, obwohl es für die Verbraucher in Europa derzeit keinen Anlass zur Sorge gebe, wie das Ministerium (und auch foodwatch) seit Tagen beharrlich wiederholen. Doch die Botschaft, die unters Volk gebracht werden soll, lautet: Sollten eines Tages doch radioaktiv belastete Lebensmittel aus Japan nach Deutschland kommen, ist man vorbereitet.

Maßnahmen für den „radiologischen Notstand“

Auch die Europäische Kommission hat gehandelt, um der Maßgabe eines vorsorgenden Gesundheitsschutzes gerecht zu werden. Dazu hat sie Maßnahmen aus einer in Tschernobyl-Zeiten vorbereiteten Verordnung in Kraft gesetzt, die sich auf eine „radiologische Notstandssituation“ beruft. Seither gelten strengere Kontrollvorschriften für Lebensmittel aus Japan und zusätzliche Grenzwerte für radioaktive Jod-131-Isotope. Gleichzeitig sieht die Verordnung jedoch auch laschere Grenzwerte für langfristig radioaktive Cäsium-Isotope vor (1.250 statt 600 Becquerel/Kilogramm für die meisten Lebensmittel). Das ist gleich dreifach absurd: Erstens gelten diesbezüglich für Importe aus Japan nun also niedrigere Sicherheitsstandards als vor der Fukushima-Katastrophe. Zweitens sind die Grenzwerte weniger streng als für Importe aus anderen Ländern infolge des Tschernobyl-GAU. Und schließlich sind sie auch höher als die in Japan selbst geltenden Höchstwerte – theoretisch könnte Japan also Lebensmittel nach Europa ausführen, die in Japan selbst nicht verkauft werden dürften.

Über laschere Grenzwerte wird nicht informiert

Gelockerte Grenzwerte – eine solche Schlagzeile sollte wohl vermieden werden. Informiert wurde die Öffentlichkeit lediglich über die strengeren Kontrollvorgaben. Bundesverbraucherministerin Aigner betonte ihren Anteil an der schnellen Entscheidung: „Deutschland hat sich auf europäischer Ebene für diese Erhöhung der Sicherheitsmaßnahmen eingesetzt“, ließ sie in einer Presseerklärung vermelden. Die lascheren Grenzwerte ließ auch sie einfach unter den Tisch fallen.

„Erfahren hat die Öffentlichkeit davon [..] erst, nachdem foodwatch und das Umweltinstitut München darauf aufmerksam gemacht haben. Damit ist der Eindruck entstanden, als habe die EU klammheimlich die Grenzwerte verändert, was nicht gerade das Vertrauen der Bürger in die Behörden stärken dürfte“, schreibt stern.de – und betitelt diese Politik als „Lehrstück über absurden Verbraucherschutz“.

„Wirre Verbraucherpolitik aus Brüssel“

Als „einigermaßen bizarr" bewertet auch die Wirtschaftswoche diese „wirre Verbraucherpolitik aus Brüssel" und die Informationsarbeit von EU und Bundesregierung. Denn tatsächlich blieb es nicht dabei, dass die neuen Grenzwerte unerwähnt gelassen wurden. Es folgte Stufe 2, von der Süddeutschen Zeitung treffend als Formulierungskniff entlarvt: „Aber nein, behauptet nun die EU-Kommission, man habe die Grenzwerte nicht erhöht. Dabei versteigt sich die Brüsseler Behörde in verwaltungstechnischen Winkelzügen: Es sei lediglich eine Verordnung in Kraft gesetzt worden, die seit 1987 für Atomunfälle vorgesehen ist.“ Tatsächlich hat die EU nicht in eine bestehende Verordnung höhere Grenzwerte geschrieben – sondern für Japan-Importe eine andere, ruhende Verordnung in Kraft gesetzt, in der bereits seit vielen Jahren höhere Grenzwerte stehen. Das Ergebnis ist dasselbe: Japanische Lebensmittel müssen jetzt laschere Strahlengrenzwerte einhalten als vor Fukushima-Katastrophe.

Ein „PR-Debakel" und „Panikmache für Anfänger", bilanziert die Süddeutsche Zeitung: „Man muss schon sehr in die Behördenwelt abgetaucht sein, um nicht zu merken, welch verheerenden Eindruck das in der Bevölkerung auslöst. Welcher Bürger soll jetzt noch glauben, dass die neuen (Verzeihung, längst in der Schublade vorgesehenen) Grenzwerte nicht dazu dienen, die Einfuhr verstrahlter Lebensmittel zu ermöglichen?"

Waren alte Grenzwerte für Japan-Importe gültig?

Doch der Dementi-Reigen riss nicht ab: Stufe 3 war die unzutreffende Aussage, dass es vor der EU-Eilverordnung überhaupt keine Radioaktivitäts-Grenzwerte für Lebensmittel-Importe aus Japan gegeben habe. Darauf beharren das deutsche Verbraucherministerium und die EU-Kommission noch immer: Die Grenzwerte für die Cäsium-Aktivität von bis zu 600 Becquerel/Kilogramm hätten nur für Lebensmittelimporte aus den direkt von der Tschernobyl-Katastrophe betroffenen Ländern Gültigkeit gehabt. Für Importe aus Japan seien damit jetzt also erstmalig überhaupt Höchstwerte eingeführt worden. Wenn das wirklich so wäre, würde es tatsächlich eine Verbesserung der Lebensmittelsicherheit darstellen.

Würde. Denn die Auslegung von EU und Bundesregierung wird in der Praxis nicht geteilt. Am Hamburger Hafen beispielsweise wurden für Importe aus allen Ländern, also auch aus Japan, auch bisher schon der Cäsium-Grenzwert von maximal 600 Becquerel/Kilogramm angewandt, wie foodwatch aus dem Hamburger Institut für Hygiene und Umwelt bestätigt wurde. Nun sind höhere Strahlenwerte zulässig – absurderweise müssen die Kontrolleure jetzt Produkte mit einer Belastung durchwinken, die sie vor Fukushima zurückgewiesen hätten.

Umweltbundesamt: Grenzwerte gelten auch für innerdeutschen Handel

Und auch weitere offizielle Stellen bestätigen, dass die niedrigeren Grenzwerte nicht nur für Importe aus von Tschernobyl betroffenen Regionen angewandt wurden. Das Umweltbundesamt etwa schreibt hinreichend klar, dass diese Limits sogar innerhalb Deutschlands Anwendung fanden: „Dieser Grenzwert wurde ursprünglich aus Vorsorgegründen für die radio-aktive Kontamination von Nahrungsmittelimporten aus Drittländern in die Europäische Gemeinschaft festgelegt, ist nach der deutschen Rechtssprechung aber auch auf den Handel innerhalb Deutschlands anzuwenden.“