Nachricht 27.03.2012

Pflugbeil: „Das war eine richtige Gehirnwäsche“

Ein Jahr nach Fukushima: Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, spricht im foodwatch-Interview über die Folgen der Reaktorkatastrophe – und fordert eine deutliche Verschärfung der Grenzwerte.

Sebastian Pflugbeil, Jahrgang 1947, engagiert sich für die Aufklärung der Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima. Gemeinsam mit dem Wissenschaftsjournalisten Thomas Dersee verfasste der Physiker im Auftrag von foodwatch ein Gutachten zu den gesundheitlichen Auswirkungen der Strahlengrenzwerte für Lebensmittel. In dem darauf basierenden Report „Kalkulierter Strahlentod“ fordert foodwatch eine drastische Reduktion der Grenzwerte in der EU und in Japan. Ein Interview.

Herr Pflugbeil, man hört nur noch wenig aus der Unglücksregion. Also alles in Ordnung?

Nein, täglich gibt es in Japan neue Meldungen über die radioaktive Belastung und kontaminierte Nahrungsmittel. Doch von offizieller Seite versucht man das Thema herunterzuspielen.

Und damit kommen die Politiker durch?

Das hängt viel mit dem von oben propagierten Patriotismus zusammen, zu dem einem wirklich nichts mehr einfällt. Politiker empfehlen allen Ernstes, man solle nun erst recht Nahrungsmittel aus Fukushima kaufen, um die Region zu unterstützen!

Dennoch fragt man sich, warum es so wenig Protest in Japan gibt.

Japaner sind sehr brav erzogen. Es war nicht üblich, auf Demonstrationen zu gehen. Über Jahrzehnte hörte man in Japan kaum ein kritisches Wort über die Kernenergie, das war eine richtige Gehirnwäsche. Jetzt ändert sich das und es tut sich durchaus etwas: Bürger organisieren sich und betreiben in eigener Regie Messstationen, damit die radioaktive Belastung nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden kann. Mütter, Künstler und Wissenschaftler gehen an die Öffentlichkeit. Der Protest ist für japanische Verhältnisse schon ungewöhnlich scharf.

Wie geht es jetzt weiter?

Das Ausmaß der Langzeitfolgen ist noch überhaupt nicht abzuschätzen. Das größte Problem sind die Nahrungsmittel. Im Boden und im Wasser konzentriert sich die radioaktive Belastung und gelangt über Pflanzen und Tiere ins Essen. Die Radioaktivität bleibt so sehr lange im biologischen Kreislauf. Deshalb brauchen wir Grenzwerte, die wirklichen Schutz bieten.

Die Grenzwerte in Japan sollen jetzt offenbar gesenkt werden.

Das ist dringend notwendig! Aber die neuen Grenzwerte sind noch immer zu hoch und gefährden die Bevölkerung. Wie sieht es mit den Grenzwerten in Deutschland und Europa aus? In Europa wurde nach Fukushima eine Verordnung aus Tschernobyl-Zeiten aus der Schublade gezogen. Um den wirtschaftlichen Schaden möglichst gering zu halten, traten damit höhere Grenzwerte für japanische Importe in Kraft. Dabei ist der Anteil japanischer Lebensmittel in Europa verschwindend gering. Warum wurde also nicht einfach ein Importstopp verhängt? Das wäre im Sinne eines vorbeugenden Gesundheitsschutzes richtig gewesen.

Muss man sich Sorgen wegen belasteter Lebensmittel in Deutschland machen?

Ich würde noch nichts Japanisches kaufen. Und was ist etwa mit Fisch aus dem Nordpazifik? Man erfährt ja nicht, wo genau der Fisch gefangen wurde und auch nicht, wie weit sich die Radioaktivität im Meer verbreitet hat. Bei Fischen ist die Belastung häufig schlimmer als bei Säugetieren, denn die Nahrungsketten sind länger und in ihren Organen reichern sich Radionuklide teilweise viel stärker an. Da kann man noch unangenehme Überraschungen erwarten.