Nachricht 26.06.2013

Die neue britische Ampel – eine Mogelpackung

Nun also doch: In Großbritannien führen Hersteller und Handelskonzerne großflächig und freiwillig eine Nährwertkennzeichnung mit Ampelfarben ein. Ein Erfolg für die Verbraucher? Mitnichten. Die Regularien wurden längst im Sinne der Industrie aufgeweicht und die Politik unternimmt den Versuch, mit der Ampel Gesundheitskosten zu privatisieren.

Eine Milliarde Euro hat die europäische Ernährungsindustrie in eine beispiellose, jahrelange Lobbyschlacht zur Verhinderung einer gesetzlich vorgeschriebenen Ampel-Nährwertkennzeichnung in Europa gesteckt. Am 16. Juni 2010 stellte sich der gewünschte Erfolg im zunächst ampel-freundlichen EU-Parlament denn auch ein. Die Schlacht war gewonnen, die Nährwertampel hatte es nicht in die neue Lebensmittelinformationsverordnung der Europäischen Union geschafft. Daran hatten auch die Trilog-Verhandlungen zwischen EU-Parlament, Kommission und dem von den Regierungen der Mitgliedstaaten gebildeten EU-Rat nichts geändert.

Großbritannien, die Mutter der Ampel-Debatte

Im Vereinigten Königreich dürfte die Industrie darüber besonders erfreut gewesen sein. Hatte doch, im Kampf gegen grassierendes Übergewicht, die dortige Ernährungsbehörde FSA (Food Standards Agency) im Frühjahr 2007 mit ihrem dreifarbigen Kennzeichnungssystem die „Schlacht“ um die Ampel eröffnet und die Industrie dazu genötigt, ein eigenes Nährwertkennzeichnungsmodell (GDA, guideline daily amount) zu entwickeln. Dies war der Ausgangspunkt der späteren EU-Debatte.

Und nun, sechs Jahre später, sitzt genau diese britische Ernährungsindustrie, seien es Handelskonzerne (darunter auch die britischen Töchter von Lidl und Aldi) oder Hersteller wie Nestlé und Mars, an einem Tisch mit der FSA und verkündet die frohe Botschaft eines gemeinsam ersonnenen freiwilligen Ampel-Modells.

Warum die britische Ampel kein Erfolg für die Verbraucher ist

Wird nun doch alles gut, für die Verbraucher? Wünschen die sich doch seit langem, ob in Großbritannien oder in Deutschland, mit großer Mehrheit die leicht verständliche Ampelkennzeichnung. Und scheitern doch selbst die Cheflobbyisten der Lebensmittelindustrie an ihrem eigenen komplizierten Nährwertkennzeichnungssystem, wie unser Video zeigt:

Zum Streamen von Videos nutzen wir YouTube. YouTube nutzt Cookies und schickt personenbezogene Daten in die USA. Mehr Infos in der Datenschutzerklärung.

Farb-Umschlagswerte für Zucker wurden gelockert

Doch ein Erfolg ist die britische Initiative mitnichten, entgegen allem Anschein hat die Lebensmittelwirtschaft nichts dazu gelernt. Jahrelang hat sie eine farbliche Kennzeichnung als zu vereinfachend und irreführend diskreditiert und letztlich als verpflichtende Kennzeichnung verhindert, akzeptiert sie in Großbritannien jetzt aber plötzlich als freiwilliges Modell – nachdem sie längst dafür gesorgt hat, dass die Grenzwerte verschoben wurden. Ein Lebensmittel bekommt nach dem neuen, britischen Modell also nicht mehr so schnell eine rote Zucker-Ampel wie nach dem ursprünglichen System: Sollte es eigentlich bei festen Lebensmitteln (nicht Getränke) ab 12,5 Gramm Zucker pro 100 Gramm rot blinken, erfolgt dieses Signal nun erst ab 22,5 Gramm. Dass es bei Fett ein wenig strenger wurde (Rot ab 17 statt ab 20 pro 100 Gramm) kann die Freude in der Industrie nicht schmälern. Ein Lehrstück für meisterhafte Lobbyarbeit.  

EU entlastet britische Regierung

Erinnern wir uns: Übergewicht war der Auslöser für die damals junge und – als Folge des von der britischen Regierung versprochen Neuanfangs des staatlichen gesundheitlichen Verbraucherschutzes nach BSE – politisch völlig unabhängige FSA, ihr Ampelmodell zu entwickeln. Die Verbraucher sollten auf einen Blick erkennen können, wie viel Fett, Zucker und Salz sich – üblicherweise gut versteckt hinter blumigen bis schamlosen Werbeversprechen – in Fertiglebensmitteln verbargen. Die Farben standen für ergänzende Signale: Auf dass die Menschen ausgewogenere Produkte kaufen und so ihre Ernährung gesünder gestalten würden. Letzteres käme über kurz oder lang auch dem chronisch klammen „National Health Service“ zugute, dem britischen, steuerfinanzierten Gesundheitssystem, für welches mehr Dicke eben auch mehr Kosten bedeuteten, während die Ernährungsbranche fröhlich Gewinne aus den Kalorienbomben zog.

Zu allem Übel (aus Sicht der Industrie) funktionierte das System und es gab erste freiwillige Anwender wie die Handelskette Sainsbury, welche sich davon Marketing- und Imagevorteile bei ihren typischerweise der Mittelklasse angehörenden Kunden versprach. Rezepturen wurden daraufhin verbessert, und sogar bei den Kunden wurden positive Effekte wissenschaftlich nachgewiesen. Doch weil die damalige Labour-Regierung es sich nicht ernsthaft mit der Ernährungsbranche verderben wollte, kam es nie zum Schwur, also einer verpflichtenden Ampelkennzeichnung für alle Anbieter. Schließlich erbarmte sich die EU, indem sie das Thema an sich zog – so war Downingstreet 10 aus dem Schneider.

FSA: Erst unabhängig, dann zurückgepfiffen

Doch die freche FSA machte weiter Stimmung für die Ampel, weshalb es nicht wunder nimmt, dass die Industrie auf die Barrikaden ging und zweitens, die frischgewählte Tory-Regierung unter David Cameron nichts Eiligeres zu tun hatte, als ebendiese FSA zu kastrieren: Deren politische Abteilung wurde ins Gesundheitsministerium zwangsintegriert. Denn Ruhe ist auch auf der Insel die erste Bürokratenpflicht. Und doch blieben die Probleme – Übergewicht hier, klammes Gesundheitswesen dort. Und eine Regierung, die einen gesundheitspolitischen Goodwill-Erfolg benötigt – und vielleicht sogar etwas mehr…

Runde Tische wurden einberufen, die FSA, der nunmehr von der Regierung gelenkte Ampel-Veteran, durfte ein aufwändiges Beteiligungs- und Meinungsbildungsverfahren mit allen möglichen Beteiligten zum idealen Nährwert-Kennzeichnungssystem durchführen – und siehe da: nach heftigem Geziehe und Geschubse hinter den Kulissen kam ein auch von der Wirtschaftsseite akzeptiertes Mischmodell aus Industriekennzeichnung (GDA) und Ampelfarben heraus. Selbiges zeichnet sich 1. durch eine deutlich mildere, nämlich der Industrie genehme Farbumschlaggrenze für Zucker aus, 2. durch eine deutlich weniger provokante grafische Durchschlagskraft und 3. durch die für alle Industrie-Zugeständnisse offensichtlich obligate Freiwilligkeit.