Nachricht 19.10.2010

Irreführung: Aigner legt sich mit Lebensmittelindustrie an

Die Bundesregierung hat dem grassierenden Etikettenschwindel bei Lebensmitteln den Kampf angesagt. Im Internet will Verbraucherministerin Ilse Aigner über die ganz legalen Tricks der Hersteller aufklären – und erkennt damit erstmals an, dass es ein Problem jenseits von Gesetzesverstößen gibt. 

Die Lebensmittelindustrie läuft Sturm gegen das Projekt. Ein Rechtsgutachten, in Auftrag gegeben vom mächtigen Lobbyverband BLL, soll belegen, dass die Pläne der Bundesregierung „rechtswidrig“ sind. Es sei nicht „Aufgabe der Staatsleitung“, auf Anfrage von Verbrauchern hin die Deklaration konkreter Produkte auf mögliche Verbrauchertäuschung hin zu überprüfen. Und vor allem dürften nicht, wie vorgesehen, die staatlich finanzierten Verbraucherzentralen mit einem solchen Internetprojekt betraut werden – denn diese seien nicht neutral. „Ihre Organe sind nicht mit Vertretern der Wirtschaft besetzt“, beklagt sich der BLL. Aus diesen Worten lässt sich vor allem eines ablesen: Die Lebensmittelbranche ist in höchster Aufregung.

Kein Pranger, sondern Aufklärung

Dabei ist das, was die Bundesregierung plant, keineswegs die Rückkehr ins Mittelalter – auch wenn sich in den Medien die griffige Formulierung von einem „Pranger“ im Internet durchgesetzt hat. Verbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) will lediglich ein Onlineportal finanzieren und von den Verbraucherzentralen betreiben lassen, in dem alle Informationen über die Deklaration von Lebensmitteln zusammengetragen werden. Zudem sollen die Verbraucher Anfragen zu Lebensmitteln stellen können, von denen sie sich getäuscht sehen. Dies alles, so die Pläne, wird mit Namen und Foto des Produkts sowie einer Stellungnahme des Herstellers veröffentlicht – und wieder entfernt, sollte sich der Täuschungsvortwurf als haltlos erweisen. „Klarheit und Wahrheit“ lautet der lyrische Titel des Projekts.

Bundesregierung erkennt legale Tricks als Problem an

foodwatch hat das Vorhaben öffentlich unterstützt. Zwar kann eine Internetseite nicht alle Bevölkerungsteile erreichen und schon gar nicht das Problem des legalen Etikettenschwindels beseitigen. Bemerkenswert ist das Vorhaben dennoch. Denn erstmals erkennt Verbraucherministerin Ilse Aigner offiziell an, dass es jenseits von Gesetzesverstößen überhaupt ein massives Problem gibt, dass also auch ganz legale Werbepraktiken irreführend sein können. Und erstmals legt sie sich ernsthaft mit der Lebensmittelindustrie an. Die behauptet öffentlich weiterhin, dass es „nur einige wenige schwarze Schafe“ gebe, die sich nicht an die Gesetze hielten, wie Jürgen Abraham in einem Bild-Interview sagte. Dass auch legale Praktiken irreführend sein können, will der Chef der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie nicht wahrhaben.

Koalitionspartner FDP kritisiert Ministerin

Auch die Koalitionspartei FDP kritisiert Ministerin Ilse Aigner für ihr Klarheit-und-Wahrheit-Projekt. Die liberale Fraktion lehne „eine politische Steuerung des Konsums und eine Bevormundung der Verbraucher strikt ab“, zitiert die Nachrichtenagentur dpa FDP-Politikerin Christel Happach-Kasan. Sie forderte, die Wirtschaft mit einzubinden. Das genau hält foodwatch für den falschen Weg, schließlich hat die Lebensmittelindustrie kein Interesse daran, dass ihre Werbetricks entlarvt werden. Die Verbraucher schon. Und dass schon Aufklärung über Lebensmittelwerbung und -deklaration als „Bevormundung“ aufgefasst wird, ist bezeichnend für den Zustand einer Branche, in der Intransparenz zum Geschäftsmodell gehört.

foodwatch hat es vorgemacht: auf abgespeist.de

Ganz neu ist das Konzept Wahrheit und Klarheit im Internet übrigens nicht. foodwatch praktiziert es bereits seit Ende 2007 – auf abgespeist.de. Selbstverständlich mit Produktfotos, Herstellernamen und Stellungnahmen der Unternehmen.