Nachricht 02.05.2012

EHEC-Krise nicht aufgeklärt, Schwachstellen nicht beseitigt

Ein Jahr nach der EHEC-Krise mit 53 Todesfällen im Frühsommer 2011 ist die Epidemie noch immer unzureichend aufgearbeitet. Anders als in der Bilanz der Bundesministerien für Gesundheit und Verbraucherschutz dargestellt, ist weder der EHEC-Ausbruch aufgeklärt noch wurden die Schwachstellen in Lebensmittelüberwachung und Gesundheitsschutz offen analysiert, geschweige denn behoben. Zu diesem Ergebnis kommt eine 29-seitige Analyse, die foodwatch unter dem Titel „Im Bockshorn“ veröffentlichte.

Zu Beginn der EHEC-Epidemie Anfang Mai 2011 funktionierte weder das Frühwarnsystem noch die behördliche Zusammenarbeit. Am 23. Mai, als sich bereits 3.500 Menschen und damit 90 Prozent aller Erkrankten infiziert hatten, lag dem zuständigen Robert-Koch-Institut des Bundes lediglich eine einzige Erkrankungsmeldung vor. Die zentrale Bund-Länder-Task-Force wurde vom Bundesverbraucherministerium jedoch erst am 3. Juni eingesetzt und konnte damit kaum noch Einfluss auf den Verlauf der längst abgeschwächten Epidemie nehmen. Die erste öffentliche Warnung vor Bockshornklee-Sprossen erfolgte in Niedersachsen am 5. Juni, bundesweit erst am 10. Juni.

Die EHEC-Bilanz von Verbraucherministerin Ilse Aigner und Gesundheitsminister Daniel Bahr ist ein Fall von Geschichtsklitterung: Die Minister stellten ägyptische Sprossensamen als quasi-erwiesene Quelle der Keime dar, obwohl es dafür keinen einzigen Tatsachenbeleg gab. Außerdem sprachen sie von einer erfolgreichen Bewältigung der Krise, obwohl ein untaugliches Meldesystem das Ausmaß der Epidemie nicht erkannt hat. Und sie lobten die Zusammenarbeit von Bund und Ländern, obwohl es dazu erst kam, als der EHEC-Ausbruch seinen Höhepunkt längst überschritten hatte.

foodwatch bezweifelt offizielle EHEC-Analyse

Für die These, dass der EHEC-Erreger über verunreinigte Bockshornklee-Samen aus Ägypten importiert und über einen Bio-Sprossenerzeuger im niedersächsischen Bienenbüttel verbreitet wurde, gibt es zwar Hinweise, aber keinen Beleg. Denn die These stützt sich auf nur rund 300 der mehr als 3.800 Erkrankungsfälle, die an 41 Orten auftraten und auf den Bienenbütteler Sprossenhof zurückzuführen waren, in dem Samen aus Ägypten ausgekeimt wurden. Die Übersicht über alle Fälle hat die von der Bundesregierung eingesetzte „Task Force EHEC“ nie veröffentlicht.

Jedoch gerade einmal 75 von 15.000 Kilogramm der mutmaßlich kontaminierten Samen-Chargen aus drei ägyptischen Farmen – also 0,5 Prozent – wurden an den Bienenbütteler Sprossenhof geliefert. Offen ist bislang, weshalb die an andere Händler in Deutschland, Österreich, Spanien oder Schweden gelieferten Samen aus denselben Chargen nicht zu EHEC-Infektionen führten (lediglich aus Frankreich ist ein Ausbruch bekannt, der in Verbindung mit den ägyptischen Samen gebracht wurde). Darüber hinaus konnte der Keim weder auf den betroffenen Samen noch auf den ägyptischen Farmen je nachgewiesen werden.

Fall gelöst! Wirklich?

foodwatch kritisiert deshalb, dass mit der Festlegung auf die unbewiesene Ägypten-These den Verbrauchern vermittelt wurde, der Fall sei gelöst und die Ursache des Problems liege im fernen Ägypten.

In der veröffentlichten EHEC-Analyse konnte  foodwatch nachweisen, dass die Behörden das bekanntermaßen von Sprossen zum Roh-Verzehr ausgehende Risiko unterschätzt haben. So stuften die niedersächsischen Behörden den Sprossenhof in Bienenbüttel als „Gartenbaubetrieb“ und nicht als Lebensmittelhersteller ein – mit der Folge, dass er niedrigeren Hygienestandards und weniger strengen Kontrollen unterworfen war.

foodwatch fordert Konsequenzen

foodwatch forderte die Bundesregierung deshalb auf, die Hygiene- und Überwachungsstandards für sensible Rohkost (wie Sprossen oder vorgeschnittenen Salat) denen für leicht verderbliche tierische Lebensmittel anzupassen und regelmäßige Untersuchungen auf pathogene E.coli-Bakterien vorzuschreiben. Zudem sollten die Meldefristen für Erkrankungen an dem von EHEC ausgelösten HU-Syndrom erheblich verkürzt werden. Nach der von Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr geplanten Reform könnten noch immer drei Tage vergehen, bis das Robert-Koch-Institut des Bundes von den lokalen Gesundheitsämtern über den Zwischenschritt Länderbehörden informiert wird. Es gibt aus Sicht des Verbraucherschutzes jedoch keinen Grund dafür, weshalb die Gesundheitsämter nicht gleichzeitig an Landesbehörde und RKI melden sollten – und zwar tagesaktuell.

Weiter fordert foodwatch, dass die von der EU bereits seit 2005 gesetzlich vorgeschriebene Rückverfolgbarkeit endlich durchgesetzt wird – und zwar nicht nur für Sprossen, sondern für alle Lebensmittel. Denn während der EHEC-Krise ging viel Zeit für die Rekonstruktion von Lieferwegen und Warenströmen verloren.  

Schließlich sollte die Struktur der Lebensmittelüberwachung den globalen Warenströmen im Lebensmittelmarkt angepasst werden, indem auf Landesebene die Fach- und Dienstaufsicht für sämtliche Überwachungstätigkeiten zusammengefasst wird. Dadurch lägen alle Kompetenzen, Durchgriffsmöglichkeiten und Verantwortlichkeiten bei der jeweiligen Landesregierung. Eine bundesweite Koordinierungsstelle (Task Force) ist sinnvoll, kann jedoch auf Landesebene zentral organisierte Strukturen der Lebensmittelüberwachung und des Öffentlichen Gesundheitsdienstes nicht ersetzen.

Der EHEC-Ausbruch begann Anfang Mai 2011. Dem Ausbruchgeschehen wurden bis Ende Juli 2011 insgesamt 2.987 Fälle von EHEC-Gastroenteritis und 855 Erkrankungen an dem schweren hämolytisch-urämischen Syndrom (HUS) zugeordnet, zusammen also 3.842 Erkrankungen; 53 Menschen starben.