Nachricht 21.06.2016

Studie: Wie TTIP und CETA das Vorsorgeprinzip aushebeln

Die Freihandelsabkommen TTIP und CETA hebeln das europäische „Vorsorgeprinzip“ zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher aus – das belegt jetzt erstmals ein internationales Rechtsgutachten, das foodwatch heute vorgestellt hat. Die Folgen sind weitreichend: So könnten zum Beispiel  in der EU nicht zugelassene Chemikalien auf den europäischen Markt kommen oder die Pestizidbelastung von Lebensmitteln steigen.

Das in den Verträgen der Europäischen Union festgeschriebene Vorsorgeprinzip bildet eine wesentliche Grundlage für die Gesundheits-, Umwelt- und Verbraucherpolitik in Europa – und unterscheidet sich fundamental von dem „nachsorgenden Ansatz“ in den USA und Kanada. Während in Nordamerika prinzipiell alle Substanzen zugelassen werden, bis deren Schädlichkeit nachgewiesen wird, gilt beim Vorsorgeprinzip die Umkehr der Beweislast. Demnach muss ein Unternehmen – beispielsweise bei der Zulassung von Chemikalien – die Unschädlichkeit wissenschaftlich nachweisen und alle eigenen Studien dazu offenlegen. Regierungen in Europa können bei potenziellen Risiken vorsorgend aktiv werden, wenn es begründete Bedenken gibt. 

Vorsorgeprinzip in TTIP und CETA „nicht hinreichend verankert“

Anders als von Vertretern der Bundesregierung und der Europäischen Union immer wieder behauptet, ist das Vorsorgeprinzip in den Vertragstexten für TTIP und CETA „nicht hinreichend verankert“. Zu diesem Ergebnis kommen die Autoren der Studie Prof. Dr. Peter-Tobias Stoll, Direktor der Abteilung Internationales Wirtschaftsrecht und Umweltrecht an der Georg-August-Universität Göttingen, Dr. Wybe Th. Douma vom TMC Asser Instituut in Den Haag und Prof. Dr. Nicolas de Sadeleer von der Université Saint-Louis in Brüssel. Sowohl TTIP als auch CETA beziehen sich zudem explizit auf rechtliche Verpflichtungen der Welthandelsorganisation (WTO), in denen sich das Vorsorgeprinzip, wie in Europa praktiziert, nicht wiederfindet. Regulierungsvorhaben, die sich auf das Prinzip der Vorsorge berufen, könnten somit in Zukunft verzögert, verwässert oder verhindert werden.

Politik und Wirtschaft täuschen die Öffentlichkeit

Politiker in Brüssel und Berlin sowie Wirtschaftsvertreter behaupten hingegen, das Vorsorgeprinzip sei durch TTIP und CETA nicht in Gefahr. So erklärte Bundesjustizminister Heiko Maas gegenüber foodwatch,  dass „das Vorsorgeprinzip bei den Verhandlungen nicht zur Disposition steht“. Bundeskanzlerin Angela Merkel versicherte, es werde „kein einziger Standard, der in der Europäischen Union oder in Deutschland gilt, abgesenkt“. Und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel versprach: „Eine Absenkung der erreichten Standards wird es nicht geben.“


Doch die Behauptung, das Prinzip des vorsorgenden Verbraucherschutzes würde nicht angerührt und europäische Standards seien nicht in Gefahr, ist eine vorsätzliche Täuschung der Öffentlichkeit. Das Vorsorgeprinzip wird in den Handelsverträgen nicht an einer einzigen Stelle genannt. foodwatch kritisiert: TTIP und CETA sind ein versteckter Angriff auf das europäische Vorsorgeprinzip. Klammheimlich soll ein Verfassungsrecht ausgehebelt werden – mit fatalen Folgen für die Verbraucherinnen und Verbraucher. 

Wie die Freihandelsverträge TTIP und CETA das Vorsorgeprinzip und somit Schutzstandards in Europa gefährden, veranschaulichen drei Beispiele:

  • Pestizide: Nach geltendem EU-Recht müssen Pestizide, bevor sie zugelassen werden, auf ihre gesundheitliche Unbedenklichkeit geprüft werden. Bei begründeten Bedenken muss ein Stoff vorsorglich verboten werden. Aktuell fordern beispielsweise einige EU-Staaten ein Verbot des in der Wissenschaft umstrittenen Pestizids Glyphosat – und berufen sich dabei explizit auf das Vorsorgeprinzip. Mit TTIP wäre ein Glyphosat-Verbot nur schwer möglich oder würde Strafzölle nach sich ziehen.
  • Hormonelle Disruptoren: Hormonelle (oder auch endokrine) Disruptoren, wie beispielsweise Bisphenol A, stehen unter Verdacht, den Hormonhaushalt zu stören und die Gesundheit zu gefährden. Nach dem vorsorgenden Grundsatz hätten die Stoffe in der EU längst reguliert werden müssen. Die Europäische Kommission sollte bereits bis 2013 in einem ersten Schritt Kriterien zur Definition der umstrittenen Stoffe vorlegen – verzögerte dies jedoch mit Blick auf die laufenden TTIP-Verhandlungen jahrelang. Erst als deswegen der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Kommission rügte, legten die Beamten den EU-Mitgliedsstaaten vergangene Woche einen Vorschlag vor – der von Umweltorganisationen als zu lasch kritisiert wurde. Das Beispiel zeigt, wie die Verhandlungen über geplante Freihandelsabkommen bereits jetzt Maßnahmen zum Gesundheitsschutz verzögern. Sind CETA und TTIP erst einmal unterschrieben, so droht eine Regulierung endgültig nicht mehr zustande zu kommen.
  • Chemikalien: Die weltweit als sehr streng geltende europäische Chemikalienverordnung (REACH) fußt auf dem Vorsorgeprinzip und steht damit im diametralen Gegensatz zum US-Recht, das grundsätzlich zunächst von der Unbedenklichkeit der Stoffe ausgeht. Da in TTIP und CETA das Prinzip des vorsorgenden Gesundheitsschutzes nicht verankert ist, könnte sich die EU nicht mehr erfolgreich darauf berufen. Die Folge: Chemikalien aus den USA oder Kanada, die in der EU verboten sind, könnten gegenseitig als gleichwertig anerkannt werden und ohne weitere Prüfung auf den europäischen Markt gelangen.

Verfassungsbeschwerde „Nein zu CETA!“

Trotz der weitreichenden Folgen von TTIP und CETA halten die Europäische Union und ihre Verhandlungspartner an den geplanten Abkommen fest. Der CETA-Vertrag zwischen EU und Kanada ist bereits fertig ausgehandelt und soll nach Plänen der Bundesregierung noch in diesem Jahr „vorläufig“ in Kraft treten – ohne, dass der Bundestag oder die nationalen Parlamente in anderen Mitgliedsstaaten darüber abstimmen. foodwatch hat gemeinsam mit den Organisationen Campact und Mehr Demokratie eine Bürgerklage gegen CETA vor dem Bundesverfassungsgereicht initiiert. Unter www.ceta-verfassungsbeschwerde.de können Bürgerinnen und Bürger die Klage mit einer Vollmacht unterstützen.