Nachricht 30.03.2022

Wie die Agrarlobby den Krieg missbraucht

Kaum hatte der Angriff Russlands auf die Ukraine begonnen, meldeten sich die Lobbyist:innen der Agrarindustrie zu Wort. Öffentlich schürten sie Angst vor Nahrungsmittelknappheit. Und forderten in Brüssel, Umwelt- und Klimaschutzauflagen für die Landwirtschaft auszusetzen. Mit Erfolg: Die EU legt ihre Pläne beiseite, den Einsatz von Ackergiften zu reduzieren. Artenschutz-Flächen gibt sie wieder für den Futtermittel-Anbau frei.

Ein Kommentar von foodwatch-Geschäftsführer Dr. Chris Methmann

Auf den ersten Blick klingen die Forderungen von Bauernverband und Co. täuschend plausibel. Denn es stimmt ja: Die Ukraine und Russland versorgen die Welt mit viel Getreide und Ölsaaten. Aufgrund des Krieges kann die Ukraine jetzt aber weder ernten noch säen. Russland hat seine Exporte gestoppt. Und das Schwarze Meer fällt als Seeweg für Getreidetransporte aus.
Expert:innen prophezeien nun Hunger, gerade in Ländern Nordafrikas wie Ägypten, Jemen oder dem Libanon. Einige dieser krisengebeutelten Staaten backen jedes zweite Brot mit Weizen aus Russland oder der Ukraine.

Doch wenn die Agrarlobby jetzt gegen Umwelt- und Klimaschutz wettert, um Europas Erträge zu erhöhen und damit angeblich den Hunger zu bekämpfen, dann ist das vor allem eines: ein ziemlich schamloses Lobbymanöver. Denn es geht vor allem um eigene Profitinteressen. Europas Agrarindustrie hat sich darauf spezialisiert, Fleisch zu produzieren und zu exportieren. Und dafür braucht sie Massen günstiger Futtermittel. 60 Prozent der Anbauflächen in Deutschland füllen nicht etwa die Teller der Menschen, sondern die Tröge in den Ställen. Dazu kommen Berge von Soja, Palmöl und anderen Futtermitteln, die wir aus der ganzen Welt importieren. Darunter auch Ölsaaten und Getreide aus der Ukraine, Russsland oder Kasachstan. Und die werden jetzt knapp.

Den Hunger der Welt mit Fleischproduktion retten?

Deutschland produziert und exportiert also nicht etwa Getreide für die Hungernden der Welt – sondern vor allem Fleisch- und Milchprodukte. Wer aber mit noch mehr Fleisch den Hunger bekämpfen will, handelt höchst ineffizient: Eine Kalorie Fleisch kostet selbst im besten Fall noch neun Kalorien pflanzliche Nahrung, oft ein Vielfaches davon. Die Tiermast ist ein Irrweg im Kampf gegen Mangelernährung.

Es stimmt also: Nahrungsmittel werden weltweit knapp. Aber die Wahrheit ist: Wir haben nicht zu wenig Ackerboden – wir nutzen ihn nur falsch. Anstatt Klima- und Umweltschutzauflagen zu rasieren, müssen wir anfangen, unsere verfügbare landwirtschaftliche Fläche anders zu bewirtschaften. Das muss die Ampel-Koalition jetzt anpacken! Der Verweis darauf, dass die EU für Landwirtschaft zuständig ist, zählt nicht. Zum einen hat Deutschland durchaus Gewicht in Brüssel. Zum anderen kann die Bundesregierung in Deutschland konkrete Schritte umsetzen:

Drei konkrete Maßnahmen

Erstens, wir müssen die Anzahl der Nutztiere in Deutschland und Europa massiv reduzieren. Auf Ackerflächen, die heute noch Tierfutter produzieren, könnten Lebensmittel wachsen. Ganz konkret sollte die Ampel jetzt in einem ersten Schritt die Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse streichen, tierische Produkte hingegen mit dem normalen Satz von 19 Prozent besteuern. Das würde den Anreiz zur Fleischproduktion senken und gleichzeitig Haushalte entlasten, die unter der Inflation im Supermarkt ächzen – und wäre sofort heute umsetzbar.

Zweitens, wir müssen den Irrsinn mit dem Biosprit stoppen. In Deutschland wachsen auf 460.000 Hektar Energiepflanzen wie Raps oder Mais, die als Agrokraftstoffe an unseren Tankstellen landen – eineinhalb mal die Größe des Saarlandes. Würde die Ampel diese ineffiziente Biokraftstoff-Beimischung aussetzen, wäre die Fläche frei für Nahrungsmittel.

Drittens, wir müssen die Lebensmittelverschwendung begrenzen. Allein deutsche Bäckereien entsorgen laut der Umweltorganisation WWF teilweise jede fünfte Backware. In ihnen steckt Getreide von weiteren 400.000 Hektar Ackerfläche. Bislang können Backwarenunternehmen diese Verluste sogar von der Steuer absetzen.

Auf Umwelt und Artenschutz nicht verzichten

Weniger Nutztiere, weniger Biosprit, weniger Lebensmittelverschwendung: Gegen Nahrungsmittelknappheit gibt es genug Optionen – ganz ohne den dringend nötigen Umwelt- und Artenschutz zu rasieren. Setzt sich hingegen die Agrarindustrie mit ihren Forderungen durch, wäre das noch aus einem anderen Grunde fatal. Unsere hochintensive, wenig nachhaltige Landwirtschaft hängt am massiven Einsatz von Kunstdünger – der zu großen Teilen aus Russland und Belarus kommt. Dass er jetzt kaum zu ersetzen ist, bereitet vielen Landwirt:innen große Sorgen. Und legt einmal mehr offen, wie abhängig wir von Putins Einfluss sind.

Viel ist in diesen Tagen die Rede davon, sich mit der Energiewende unabhängig von russischem Erdgas und Erdöl zu machen. Man muss hinzufügen: Wer wirklich frei sein will von Putins Einfluss, muss jetzt mit aller Macht die Agrarwende vorantreiben.

Der Text erschien zuerst am 29. März 2022 in der Frankfurter Rundschau.