Nachricht 12.11.2018

Gefährliche Schwachstellen im Lebensmittelrecht

Fipronil-Eier, Pferdefleisch-Lasagne, Babymilch mit Salmonellen – regelmäßig wird Europa von Lebensmittelskandalen erschüttert. Denn die Lebensmittelgesetze in Deutschland und der EU schützen die Bürgerinnen und Bürger nicht ausreichend vor Gesundheitsgefahren und Täuschung. Zu diesem Ergebnis kommt eine umfassende foodwatch-Analyse des europäischen und nationalen Lebensmittelrechts.

Der mehr als 50-seitige Report „Rechtlos im Supermarkt“ zeigt auf, wie entgegen dem Vorsorgeprinzip Grenzwerte gelockert, umstrittene Zusatzstoffe und Pestizide zugelassen werden und trotz der vorgeschriebenen Rückverfolgbarkeit die Kontrollbehörden regelmäßig im Dunkeln tappen, wohin welche Lebensmittel geliefert werden. Verantwortlich dafür wie auch für alle größeren Lebensmittelskandale der jüngeren Vergangenheit sind erhebliche Schwächen des Lebensmittelrechts. foodwatch warf Julia Klöckner Versagen beim Verbraucherschutz vor: Obwohl die eklatanten Schwachstellen im Lebensmittelrecht bekannt seien, arbeite die Bundesernährungsministerin nicht daran, diese zu beseitigen.

„Frau Klöckner hält ihre schützende Hand über Bauern und Unternehmen, aber sie kümmert sich nicht um den Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher. Wenn die verantwortliche Ministerin keine substanzielle Reform des Lebensmittelrechts angeht, macht sie ihren Job nicht. Indem sie es unterlässt, die offenkundigen Lücken und Schwachstellen in der Gesetzgebung zu beseitigen, arbeitet Julia Klöckner kräftig mit am nächsten Lebensmittelskandal.“
Martin Rücker foodwatch-Geschäftsführer 

Julia Klöckner muss Verbraucherrechte stärken

foodwatch verlangte von Ministerin Julia Klöckner, auf EU-Ebene eine Generalreform des europäischen Lebensmittelrechts anzustoßen und auf nationaler Ebene umgehend gesetzliche Änderungen anzugehen. Dazu gehöre es, die Lebensmittelbehörden zur Veröffentlichung von gesundheitsrelevanten Informationen wie von Betrugsfällen zu verpflichten und die Klagerechte von Verbraucherinnen und Verbrauchern zu stärken. Diese müssten sich mit Sammelklagen gegen Unternehmen und mit Verbandsklagen gegen Behörden zur Wehr setzen können.

foodwatch kritisiert unter anderem drei Punkte, die grundlegende Schwachstellen beim Gesundheitsschutz und beim Schutz vor Täuschung und Betrug darstellten:

Mangelnde Rückverfolgbarkeit:

Obwohl im EU-Recht die lückenlose Rückverfolgbarkeit in der Lebensmittelkette eindeutig vorgeschrieben ist, wurde diese Vorgabe nicht durchgesetzt. So seien bei vielen Lebensmittelskandalen der letzten Jahre – von Salmonellen in Babymilch des französischen Herstellers Lactalis bis zu mit dem Insektengift Fipronil belasteten Eiern – jeweils Millionen Produkte auf den Markt gelangt, ohne dass Unternehmen und Behörden die Warenströme nachverfolgen und betroffene Produkte schnell aus dem Markt nehmen konnten. Rückverfolgbarkeit sicherzustellen ist Aufgabe der Lebensmittelbehörden in Deutschland.

Fehlende Information der Verbraucherinnen und Verbraucher:

Verbraucherinnen und Verbraucher werden bei Verstößen gegen das Lebensmittelrecht häufig entweder zu spät, nur unzureichend oder gar nicht gewarnt, kritisierte foodwatch. Bei Betrug und Täuschung sehe das EU-Recht überhaupt keine Verpflichtung für die Behörden vor, die Öffentlichkeit zu informieren. Aus diesem Grund sei zum Beispiel bis heute unbekannt, in welchen Produkten beim Pferdefleisch-Skandal statt Rindfleisch Pferdefleisch verarbeitet wurde. Auch Hygieneverstöße blieben in aller Regel geheim. Das Lebensmittelrecht entfalte daher kaum präventive Wirkung, so foodwatch. foodwatch forderte, dass Behörden die Öffentlichkeit immer schnell und umfassend informieren müssen. Und zwar unter Nennung der Namen der Hersteller und Produkte sowohl in Fällen, in denen Gesundheitsgefahr besteht, wie auch bei Betrug. Erst wenn Lebensmittelunternehmen befürchten müssten, dass Verstöße öffentlich werden, hätten die Firmen einen Anreiz, sich an alle lebensmittelrechtlichen Vorgaben zu halten. Aktive Informationspflichten für die Behörden könne die Bundesernährungsministerin sofort auf nationaler Ebene umsetzen, ohne auf eine Einigung in Brüssel zu warten, so foodwatch.

Klagerechte:

Verbraucherinnen und Verbraucher hätten kaum Möglichkeiten, sich juristisch zur Wehr zu setzen, so die Kritik von foodwatch. Zum einen müssten Kläger nachweisen, dass etwa Gesundheitsschäden durch den Verzehr eines bestimmten Lebensmittels ausgelöst wurden. Ein solcher direkter Kausalzusammenhang sei aber bei Lebensmitteln fast unmöglich zu beweisen. Zum anderen könnten bei Täuschung und Betrug Verbraucherinnen und Verbraucher maximal eine Rückerstattung des Kaufpreises verlangen – ein kaum lohnenswerter Aufwand. Stattdessen müssten Verbraucherinnen und Verbraucher sich zu Sammelklagen gegen Unternehmen zusammenschließen können, forderte foodwatch. Nötig sei zudem ein effektives Verbandsklagerecht, wie es im Umweltbereich längst etabliert sei: Verbraucherverbände müssten gegen ungesetzliche Praktiken von Unternehmen klagen können und auch die rechtliche Möglichkeit bekommen, Behörden zu verklagen, wenn diese ihre Verpflichtungen im Rahmen des EU-Rechts missachteten. Erst das schaffe das nötige Druckmittel und „Waffengleichheit“ – denn Unternehmen könnten bereits heute vor Gericht ziehen, wenn der Gesetzgeber oder Behörden in ihre Rechte eingriffen.

EU-Basisverordnung muss überarbeitet werden

Die meisten Bestimmungen im Lebensmittelrecht sind auf europäischer Ebene geregelt, einige fallen unter die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Maßgeblich auf europäischer Ebene ist die sogenannte EU-Basisverordnung, die vor rund 15 Jahren als Antwort auf die BSE-Krise („Rinderwahnsinn“) beschlossen wurde. Im Rahmen des „REFIT-Prozesses“ (Regulatory Fitness and Performance Programme) der Europäischen Kommission soll die EU-Basisverordnung jetzt überarbeitet werden. Die EU-Kommission hat dazu im April 2018 einen Reformvorschlag vorgelegt, der vor allem die Risikobewertung verbessern soll. So sollen etwa Studien zur Sicherheit von Unkrautvernichtungsmitteln wie Glyphosat zukünftig besser öffentlich zugänglich sein. Aus Sicht von foodwatch ist der Vorschlag unzureichend. Vielmehr müssten die grundlegenden Schwachstellen behoben werden.