Hintergrundinfos zu EHEC

EHEC-Krise 2011 ist nicht aufgeklärt

Der EHEC-Krise mit 53 Todesfällen im Frühsommer 2011 ist nie richtig aufgearbeitet worden. Anders als in der offiziellen Bilanz der Bundesregierung dargestellt, ist weder der EHEC-Ausbruch aufgeklärt noch wurden die Schwachstellen in Lebensmittelüberwachung und Infektionsschutz offen analysiert, geschweige denn behoben.

Die Bundesregierung hat stets behauptet, man habe die Ursache der deutschen EHEC-Krise „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ gefunden: Sprossen von Bockshornklee-Samen, die in einem Gartenbaubetrieb im Landkreis Uelzen in Niedersachsen produziert worden sind. foodwatch hat am 20. September 2013 offengelegt, dass es für diese Behauptung keine stichhaltigen Beweise gibt. Weder die von der Bundesregierung eingerichtete „Task Force EHEC“ noch das Robert-Koch-Institut (RKI) haben den Versuch unternommen, den Zusammenhang aller oder zumindest eines Großteiles der 3.842 registrierten EHEC-Erkrankungen mit dem Sprossenerzeuger zu überprüfen. Lediglich für rund 350 EHEC-Fälle ist ein solcher Zusammenhang hergestellt worden. 

Bereits in einer am 4. Mai 2012 vorgestellten 29-seitigen Analyse zur EHEC-Krise unter dem Titel „Im Bockshorn“ hatte foodwatch nachgewiesen, dass die EHEC-Bilanz der Minister Daniel Bahr und Ilse Aigner ein Fall von Geschichtsklitterung ist: Der Bundesgesundheitsminister und seine Kollegin aus dem Verbraucherministerium stellten ägyptische Sprossensamen als quasi-erwiesene Quelle der Keime dar, obwohl es dafür keinen einzigen Tatsachenbeleg gibt. Sie sprachen von einer erfolgreichen Bewältigung der Krise, obwohl ein untaugliches Meldesystem das Ausmaß der Epidemie nicht erkannt hatte. Und sie lobten die Zusammenarbeit von Bund und Ländern, obwohl es dazu erst kam, als der EHEC-Ausbruch seinen Höhepunkt längst überschritten hatte.

Frühwarnsystem und Behördenarbeit funktionierten nicht

Zu Beginn der EHEC-Epidemie Anfang Mai 2011 haben weder das Frühwarnsystem noch die behördliche Zusammenarbeit funktioniert. Am 23. Mai, als sich bereits 3.500 Menschen und damit 90 Prozent aller Erkrankten infiziert hatten, lag dem zuständigen Robert-Koch-Institut des Bundes lediglich eine einzige Erkrankungsmeldung vor. Die zentrale Bund-Länder-Task-Force wurde vom Bundesverbraucherministerium  am 3. Juni eingesetzt und konnte damit kaum noch Einfluss auf den Verlauf der sich längst abschwächenden Epidemie nehmen. Die erste öffentliche Warnung vor Bockshornklee-Sprossen erfolgte in Niedersachsen am 5. Juni, bundesweit erst am 10. Juni.

Kein Beleg für Bockshornklee-Theorie

Für die These, dass der EHEC-Erreger über verunreinigte Bockshornklee-Samen aus Ägypten importiert und über einen Bio-Sprossenerzeuger im niedersächsischen Bienenbüttel verbreitet worden sei, gibt es zwar Hinweise, aber keinen Beleg. Es bestehen viele Gründe zu Skepsis:

  • Die These stützt sich auf nur rund 350 der 3.842 Erkrankungsfälle, die an 41 Orten auftraten und auf den Bienenbütteler Sprossenhof zurückzuführen waren, in dem Samen aus Ägypten ausgekeimt wurden. Die im Abschlussbericht der „EHEC-Task-Force“ auf Seite 5 erwähnte „Gesamtliste aller Ausbruchsorte“ hat es, wie das zuständige Bundesamt für Verbraucherschutz und das RKI nach mehrfachem Nachfragen durch foodwatch zugeben mussten, nie gegeben. Am 12. März 2013 erklärte das BVL: Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Der Begriff der „Gesamtliste“ im Task Force Abschlussbericht dürfte missverständlich sein.“ Und im gleichem Schreiben gibt das BVL zu: „Die Tatsache, dass einige Nummern in der Liste fehlen oder doppelt vergeben wurden, und die Listeneinträge inhaltlich nicht einheitlich erfolgten, ist der Vorläufigkeit der Datensammlung geschuldet.
  • Am 17. Juni 2013 gab auch das RKI zu: Da die Gesamtzahl aber deutlich höher war, ergibt sich, dass die Mehrzahl der Erkrankten nicht mit einem der Task-Force-EHEC erkannten Ausbruchscluster in Verbindung steht und/oder dass die Anzahl der Erkrankten pro Cluster deutlich höher sein müsste als dem RKI bzw. der Task-Force-EHEC bekannt.“
  • Gerade einmal 75 von 15.000 Kilogramm der mutmaßlich kontaminierten Samen-Chargen aus drei ägyptischen Farmen – also 0,5 Prozent – wurden an den Bienenbütteler Sprossenhof geliefert. Offen ist, weshalb die an andere Händler in Deutschland, Österreich, Spanien oder Schweden gelieferten Samen aus denselben Chargen nicht zu EHEC-Infektionen führten (lediglich aus Frankreich ist ein Ausbruch bekannt, der in Verbindung mit den ägyptischen Samen gebracht und als Beleg für die „Bockshornklee“-Theorie gewertet wurde).
  • Weder auf den betroffenen Samen noch auf den ägyptischen Farmen konnte der Keim je nachgewiesen werden.

Bundesregierung täuscht Öffentlichkeit – EHEC-Krise ist nicht aufgeklärt

Die Bundesregierung ließ am 3. Mai 2012 durch Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr und Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner in einer gemeinsamen Presseerklärung verlautbaren, dass „(d)urch zielführende Befragungen von Patienten und gezielte Lebensmittelrückverfolgung sowie epidemiologische Studien des Robert Koch-Instituts (...) die Identifikation der Ursache der Infektionen – der Verzehr von rohen Sprossen – möglich“ gewesen sei. Diese Behauptung ist angesichts der Rechercheergebnisse von foodwatch bei RKI und BVL/Task Force EHEC nicht haltbar. Sie täuscht der Bevölkerung eine Gewissheit über den Ausgangspunkt der EHEC-Krise vor, für die es in Wahrheit keine Belege, sondern lediglich Indizien und Mutmaßungen gibt. Ob der Sprossenerzeuger in Bienenbüttel die einzige EHEC-Quelle war oder ob es weitere Quellen gab, hat die Bundesregierung offenbar nicht überprüfen lassen.

Denn nur für 10 bis 15 Prozent aller gemeldeten EHEC-Erkrankungen wurden Verbindungen zu dem Sprossenbetrieb im Landkreis Uelzen ermittelt. Bei Erkrankungsfällen z.B. in Süddeutschland (30 in Baden Württemberg, 22 in Bayern und 7 in Rheinland-Pfalz) gab es offenbar weder seitens des RKI noch seitens der „Task Force EHEC“ den Versuch, eine Verbindung zu dem norddeutschen Sprossenerzeuger herzustellen. Das RKI gab gegenüber foodwatch am 17. Juni 2013 zu, dass „es nicht möglich ist, für die einzelnen übermittelten Fälle eine Verbindung zum Sprossenproduzenten herzustellen, da die Informationen zum Sprossenverzehr nicht in den Meldedaten übermittelt wurden, bzw. nicht jeder Fall befragt wurde. Wegen der Anonymität der übermittelten Meldedaten ist es nicht möglich, die befragten HUS-Fälle in der Gesamtheit aller HUS-Fälle zu identifizieren.“

Deshalb ist auch das Schluss-Fazit der beiden Minister ein Jahr nach der EHEC-Krise am 3. Mai 2012 in seiner Kernaussage unhaltbar – und letztlich eine Täuschung der Öffentlichkeit: „In der Vergangenheit konnten laut Bundesinstitut für Risikobewertung rund 75 Prozent aller EHEC-Fälle nicht aufgeklärt werden. Im Fall der schweren Epidemie 2011 ist es durch intensive Zusammenarbeit der deutschen und europäischen Behörden jedoch gelungen, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Ursache zu identifizieren: Bockshornkleesamen aus Ägypten sowie Sprossen und Keimlinge, die daraus gezogen wurden, waren für den Ausbruch verantwortlich.“

foodwatch kritisiert, dass mit der Festlegung auf die unbewiesene Ägypten-Hypothese und mit der Behauptung, die Quelle der gesamten EHEC-Krise stehe mit dem Sprossenbetrieb in Bienenbüttel fest, den Verbrauchern vermittelt werde, der Fall sei gelöst. Die Ursache des Problems liege im fernen Ägypten und die Verbraucher bräuchten sich keine Sorgen zu machen. Dabei ist völlig unklar, woher der Erreger kam und ob er wieder virulent werden kann.

Sprossen-Betriebe unzureichend kontrolliert

In der EHEC-Analyse weist foodwatch nach, dass die Behörden das bekanntermaßen von Sprossen zum Roh-Verzehr ausgehende Risiko unterschätzt haben. So stuften die niedersächsischen Behörden den Sprossenhof in Bienenbüttel als „Gartenbaubetrieb“ und nicht als Lebensmittelhersteller ein – mit der Folge, dass er niedrigeren Hygienestandards und weniger strengen Kontrollen unterworfen war. Erst Infolge der EHEC-Krise gelten seit Juli 2013 strengere Bestimmungen zu Einfuhr, Hygiene und Rückverfolgbarkeit von Samen und Sprossen.

Das fordert foodwatch

  • Über EHEC-Krise aufklären: Die Bundesregierung muss die tatsächliche Faktenlage über die EHEC-Krise 2011 offenlegen und klarstellen, dass es weder für die ägyptische Sprossentheorie noch für die Rolle des niedersächsischen Sprossenerzeugers Belege gibt, die (wie behauptet) „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ den Hergang des Geschehens erklären können. Nach Faktenlage spielte zwar der Sprossenbetrieb eine Rolle bei der Verbreitung der EHEC-Erreger, man konnte jedoch nicht feststellen, ob dieser Betrieb der Ausgangspunkt der EHEC-Krise war oder lediglich ein Verbreiter. Ebenso ist nicht auszuschließen, dass es im Rahmen dieses EHEC-Ausbruchs weitere Quellen und/oder Verbreiter der EHEC-Erreger gegeben hat.
  • Hygiene- und Überwachungsstandards anpassen: foodwatch forderte die Bundesregierung auf, die Hygiene- und Überwachungsstandards für hygienisch sensible Rohkost (nicht nur für Sprossen, sondern auch fürvorgeschnittene Salate etc.) denen für leicht verderbliche tierische Lebensmittel anzupassen und regelmäßige Untersuchungen auf pathogene E.coli-Bakterien vorzuschreiben.
  • Meldefristen verkürzen: Die Meldefristen für Erkrankungen an dem von EHEC ausgelösten HU-Syndrom müssen erheblich verkürzt werden. Nach der von Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr geplanten und seit März 2013 in Kraft getretenen Reform könnten noch immer drei Tage vergehen, bis das Robert-Koch-Institut von den lokalen Gesundheitsämtern über den Zwischenschritt Länderbehörden informiert wird. Es gibt aus Sicht des gesundheitlichen Verbraucherschutzes keinen Grund dafür, weshalb die Gesundheitsämter nicht gleichzeitig an Landesbehörde und RKI melden sollten – und zwar tagesaktuell.
  • Rückverfolgbarkeit durchsetzen:  Während der EHEC-Krise ging viel Zeit für die Rekonstruktion von Lieferwegen und Warenströmen verloren . Die von der EU bereits seit 2005 (!) gesetzlich vorgeschriebene Rückverfolgbarkeit muss endlich durchgesetzt werden – und zwar nicht nur für Sprossen (wie seit Juli 2013 vorgeschrieben), sondern für alle Lebensmittel.. Die neuen, auf Sprossen beschränkten Rückverfolgbarkeits-Vorschriften helfen nichts, wenn Gesundheitsrisiken z.B. von anderen Gemüsen ausgehen.
  • Struktur der Lebensmittelüberwachung globalen Warenströmen anpassen: Die Struktur der Lebensmittelüberwachung muss endlich den globalen Warenströmen im Lebensmittelmarkt angepasst werden, indem auf Landesebene die Fach- und Dienstaufsicht für sämtliche Überwachungstätigkeiten zusammengefasst, politischer Einflussnahme entzogen und die konsequente Veröffentlichungspflicht über sämtliche Tätigkeiten und Erkenntnisse vorgeschrieben wird. Dadurch lägen alle Kompetenzen, Durchgriffsmöglichkeiten und Verantwortlichkeiten bei der jeweiligen Landesregierung und wären für jeden Bürger überprüfbar. Eine bundesweite Koordinierungsstelle (Task Force) ist sinnvoll, kann jedoch auf Landesebene zentral organisierte Strukturen der Lebensmittelüberwachung und des Öffentlichen Gesundheitsdienstes nicht ersetzen.