Nachricht 18.12.2014

Interview zu Baby-Nahrung: „Auf süß geeicht“

Prof. Dr. med. Wieland Kiess ist Professor für Allgemeine Pädiatrie und Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universität Leipzig. Im Interview mit foodwatch spricht er über gesundheitlich bedenkliche Baby-Nahrung und den subtilen Einfluss der Lebensmittelindustrie auf Eltern, Ärzte und Wissenschaftler.

Herr Professor Kiess, Baby-Nahrung widerspricht häufig den Empfehlungen von Ärzten. Was ist die Folge?

Häufig haben bereits Kleinkinder in Deutschland Karies und andere Zahnerkrankungen als Folge von falscher Ernährung, insbesondere zu hohem Zuckeranteil in Kleinkindnahrung und Zuckerzusätzen in Säuglingsanfangs- und folgenahrungen. Außerdem werden durch zu hohe Zucker- und Kalorienzufuhr bereits im Säuglingsalter die Weichen gestellt, dass sich Adipositas, also krankhaftes Übergewicht, mit allen Folgen wie Bluthochdruck, die Entwicklung zu Zuckerkrankheit und Herz-Kreislauf-Erkrankungen im späteren Lebensalter einstellen. Schließlich gilt: was Hänschen nicht lernt, Hans nimmermehr lernt. Wenn bereits Kinder auf zu süße Nahrungsmittel geeicht und quasi auf zu hohe Zuckerzufuhr „abgerichtet“ werden, verfestigt sich eine falsche Ernährung im späteren Lebensalter. 

Inwiefern tritt die Lebensmittelindustrie im Klinikalltag an Eltern und auch Ärzte heran?

Einerseits werden in Deutschland und anderen Industrieländern durchaus auch gesunde Säuglingsnahrung und Kleinkindnahrung von der Lebensmittelindustrie hergestellt und angeboten. Andererseits versuchen viele Industrien im Klinikalltag, in Praxen der niedergelassenen Ärzte und Ärztinnen, aber auch in Lebensmittelläden und Discountern für ihre Produkte zu werben: das Ziel ist klar ein größerer Absatz, eine Fixierung auf bestimmte Marken und auf ein bestimmtes Kaufverhalten. So versucht die Lebensmittelindustrie Nahrungsmittel, die durchaus nicht kindgerecht sind, als angeblich „kindgerecht“ zu verkaufen und zu bewerben, indem sie fälschlicherweise als „Kinderschokolade“, „Kinderbreie“ und eben anderswie als „besonders für Kinder geeignet“ bezeichnet werden.

Prof. Dr. med. Wieland Kiess ist Professor für Allgemeine Pädiatrie und Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universität Leipzig.

Gibt es auch Versuche seitens der Lebensmittelindustrie, auf die Wissenschaft Einfluss zu nehmen?

Natürlich versuchen alle Industrien, die Wissenschaft zum Teil subtil, zum Teil direkt zu beeinflussen. Firmen wie Nestlé, Danone und Hipp loben Preise aus, sprechen Einladungen für Abendessen auf Ärztekongressen aus und finanzieren durchaus auch gut gemeinte und gut durchgeführte Wissenschaftsprojekte. Die Beeinflussung von Wissenschaftlern und Ärzten geschieht dabei eher subtil und unterschwellig.

Wie sollte der Markt für Baby-Produkte verändert werden?

Die Industrie sollte sich an die Werbebeschränkung für Säuglingsanfangs- und folgenahrungen halten. Die Stellungnahme der Ernährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, unterstützt durch die Ernährungskommission der Österreichischen Gesellschaft für Kinderheilkunde: „Stillen ist die beste Ernährungsform für gesunde Säuglinge.“ Deshalb soll das Stillen aktiv gefördert, unterstützt und geschützt werden! Außerdem gilt der Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Demnach dürfen keine Anzeigen oder andere Werbemaßnahmen für Muttermilchersatzprodukte an die allgemeine Öffentlichkeit gerichtet werden. Bei der Darstellung von Muttermilchersatzprodukten muss die Überlegenheit des Stillens klar hervorgehoben werden. Außerdem dürfen keinerlei Bilder oder Texte benutzt werden, die Säuglingsnahrung und ihre Verwendung idealisieren. Gerade gegen letztere Forderung der WHO verstoßen viele Hersteller.

Wen sehen Sie besonders in der Verantwortung – die Hersteller der Produkte oder auch die Politik?

Wir alle haben Verantwortung für die beste Ernährung unserer Kinder. Damit gilt es, dass Wissenschaftler und Ärzte sich gegen auch subtile Beeinflussung durch die Industrie stemmen, dass die Hersteller von Säuglingsnahrung sich an die internationalen und nationalen Regeln halten und dass die Politik dies auch mit Sanktionen durchsetzt.

Sehen Sie in Ihrer langjährigen Arbeit eine Veränderung bei der Ernährung von Säuglingen?

Daten über einen langen Zeitraum in derselben Bevölkerung an großen Bevölkerungszahlen fehlen in nahezu allen Ländern. Im Laufe der Jahre fällt mir persönlich aber auf, dass es immer mehr einen großen Unterschied bezüglich der Säuglingsernährung zwischen Bevölkerungsschichten in Deutschland zu geben scheint: einerseits gibt es Menschen, die sehr akribisch das Stillen von Säuglingen propagieren und fördern, andererseits gibt es Bevölkerungsschichten, die Muttermilchersatzprodukte verwenden und gerade auch den subtilen Werbeversuchen der Industrie leicht folgen.

Welchen Rat können Sie Eltern für die Ernährung Ihres Neugeborenen geben?

Wann immer möglich, sollte ein gesundes Neugeborenes gestillt werden. Wenn das Stillen nicht möglich ist, sollte auf sogenannte Prenahrungen zurückgegriffen werden. Auf keinen Fall sollten gesüßte Tees als zusätzliches Getränk angeboten werden.