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Was sich nach dem Skandal um Wilke-Wurst ändern muss

picture alliance/Uwe Zucchi/dpa

Nach dem Skandal um listerienbelastete Wurst der Firma Wilke muss Bundesernährungsministerin Julia Klöckner das Lebensmittelrecht reformieren. Denn ein Blick auf die bisherigen Ereignisse zeigt: Der Fall Wilke war ein Skandal mit Ansage. 

Zum Wilke-Skandal haben im Wesentlichen dieselben Gesetzeslücken und Schwachstellen im Lebensmittelrecht beigetragen, die auch vergangene Lebensmittelskandale – von Dioxin über Pferdefleisch bis Fipronil – ermöglicht hatten. Das ist das Fazit einer foodwatch-Analyse, die auf Basis des bisherigen Wissensstandes Fehler und Versäumnisse von Politik und Behörden aufführt. 

Es greift zu kurz, zur Bewertung des Listerien-Skandals allein auf ein Versagen der Kontrollen zu verweisen und im Umkehrschluss bessere, häufigere oder strengere Kontrollen zu fordern. Bundesernährungsministerin Julia Klöckner muss vielmehr substanzielle Reformen des Lebensmittelrechts einleiten. Drei wesentliche Punkte: 

1. Rückverfolgbarkeit durchsetzen

Lückenlose Rückverfolgbarkeit ist seit vielen Jahren eine zentrale Vorgabe des europäischen Lebensmittelrechts. Im Fall Wilke können die Behörden bis heute nicht genau sagen, wo genau die vom Rückruf betroffenen Wilke-Produkte abgegeben oder weiterverarbeitet wurden. Auch bei früheren Lebensmittelskandalen (Pferdefleisch-Betrug, dioxinbelastete Eier, Fipronil) konnten die Behörden Lieferwege gar nicht oder nicht angemessen schnell nachvollziehen, um die Verbraucherinnen und Verbraucher zu warnen. Julia Klöckner muss Instrumente für die Zusammenarbeit von Behörden entwickeln, um Rückverfolgbarkeit endlich durchzusetzen – das ist eine Bundesaufgabe. 

2. Behörden müssen über gesundheitsrelevante Lebensmittel warnen

Das europäische und deutsche Lebensmittelrecht wimmelt nur so vor Soll-Bestimmungen, Ermessensspielräumen und unbestimmten Rechtsbegriffen. foodwatch ist davon überzeugt, dass der Listerien-Fall um das Unternehmen Wilke bereits deutlich früher öffentlich geworden wäre und die Menschen wirksamer hätten geschützt werden können, wenn eine Informationspflicht für Behörden bestünde. Diese Informationen umfassen Produkt- und Markennamen sowie Abnehmer und Verkaufsstellen. Es ist ein Versäumnis, dass Julia Klöckner dazu weder eine entsprechende Novellierung des deutschen Lebensmittelrechts angestoßen hat noch auf EU-Ebene aktiv geworden ist, um diesen Grundsatz auch im europäischen Lebensmittelrecht zu verankern. 

3. Handel muss Lebensmittelwarnungen an Kunden weiterreichen 

Kommt es zu einem Rückruf, ist vor allem der Hersteller in der Pflicht. Doch die Unternehmen, die die betroffenen Produkte verkauft oder ausgegeben haben und die in direktem Kontakt mit den Kunden stehen – Handelsunternehmen, Kantinen usw. – müssen bislang nicht informieren, da sie für die Produktmängel keine Verantwortung tragen. Im Fall Wilke hat zum Beispiel Ikea erst dann aktiv darüber berichtet, dass das Unternehmen auch von dem  Rückruf betroffen ist, als foodwatch diese Tatsache bereits öffentlich gemacht hatte. Händler und andere Abgabestellen müssen deshalb gesetzlich verpflichtet sein, Rückrufe von Produkten aus ihrem Sortiment auf allen verfügbaren Kanälen (im Laden/in der Kantine, per Newsletter und Social Media) weiterzuleiten und ihre Kundinnen und Kunden vor bedenklichen Lebensmitteln zu warnen.  

Der Listerien-Fall führt uns wie unter dem Brennglas vor Augen, was bei der Lebensmittelsicherheit alles schief laufen kann – und es sind größtenteils immer wieder dieselben Probleme. Ob Dioxin, Pferdefleisch oder Fipronil – genau jene Schwachstellen, die auch frühere Lebensmittelskandale möglich gemacht oder vergrößert haben, sorgten auch jetzt dafür, dass der Listerien-Fall Wilke eine solch dramatische Entwicklung nahm.
Martin Rücker foodwatch-Geschäftsführer

Versäumnisse in Hessen

Neben bundes- und europarechtlichen Schwachstellen hat es im Fall Wilke auch Versäumnisse in der Struktur der hessischen Lebensmittelüberwachung gegeben. Diese umfassen das zögerliche Vorgehen der beteiligten hessischen Behörden und die völlig unzureichenden Information der Verbraucherinnen und Verbraucher. Für diese Abläufe trägt die Landesverbraucherschutzministerin Priska Hinz politische Verantwortung. 

Was ist passiert? Eine Chronolgie des Wilke-Skandals

Die relevantesten Vorgänge im Fall Wilke – soweit bis zum 15. Oktober 2019 aus öffentlichen Quellen, Angaben von Behörden oder eigenen Recherchen bekannt:

  • März 2019: Nach späteren Angaben des Landkreises Waldeck-Frankenberg kommt es in
    Hamburg zu einem „ersten [Listerien-] Fund in einem Wilke-Produkt“. Die Behörden nehmen
    Proben in dem Betrieb und ordnen eine Grundreinigung an.
  • April: Es kommt nach foodwatch-Informationen zu einer listerienbedingten
    „Warenrücknahme“, einem so genannten „stillen Rückruf“ bei Wilke – d.h. Lebensmittel werden
    aus dem Handel genommen, ohne dass eine öffentliche Information oder Warnung darüber
    ergeht. 
  • Am 12. August wird das hessische Verbraucherministerium vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) über Untersuchungen des Robert Koch-Instituts informiert, wonach Wilke-Wurstprodukte im Verdacht stehen, Listerien zu enthalten.
  • Erst acht Tage später, am 20. August, leitet das Ministerium die Informationen über den Listerien-Verdacht an den Landkreis Waldeck-Frankenberg weiter.
  • 26. August: Eine Liste der von der Firma Wilke belieferten Händler liegt vor und wird
    (offenbar vom Hessischen Umweltministerium) dem BVL weitergeleitet
  • Zwei Tage später, am 28. August, kontrolliert die vor Ort zuständige Landkreisbehörde die Wurstfabrik und stellt „nicht unerhebliche hygienische Mängel (Allgemein, Arbeitshygiene, Bauhygiene)“ fest, die „eine nachteilige Beeinflussung der im Betrieb hergestellten, behandelten oder in Verkehr gebrachten Lebensmittel und Speisen darstellten“, wie es in der im „Verbraucherfenster“ veröffentlichten Meldung heißt. Von einer vorübergehenden oder teilweisen Stilllegung des Betriebs ist darin keine Rede.
  • Am 5. September gibt es eine Nachkontrolle bei Wilke; laut Überwachungsbehörde ist ein Großteil der Mängel abgestellt“.
  • Am 16. September wird der Verdacht auf Listerien bei Wilke bestätigt.
  • Am 18. September informiert das hessische Verbraucherministerium das Regierungspräsidium Kassel darüber. Ob die Information zeitgleich auch an den Landkreis geht, bleibt ungeklärt. Ein öffentlicher Rückruf von belasteten Lebensmitteln erfolgt nicht.
  • 20. September: Nach späteren Angaben des Hessischen Ministeriums in Medien greift von diesem Tag an eine Verfügung, der zufolge „nur noch auf einen Listerien-Schwellenwert hin geprüfte Produkte den
    Betrieb verlassen“ dürfen. Weitere Details zu dieser Anordnung bleiben unklar, ebenso, wie die
    Anordnung durchgesetzt und kontrolliert wird.
  • 25. September: Spätestens seit einer Telefonkonferenz an diesem Tage ist auch die beim
    Regierungspräsidium Darmstadt angesiedelte „Task Force Lebensmittelsicherheit“ an den Beratungen der hessischen Behörden beteiligt.
  • Erst am 2. Oktober wird der Betrieb geschlossen und alle Erzeugnisse werden öffentlich zurückgerufen. Der Berichterstattung der Deutschen Presseagentur (dpa) zufolge gibt der Landkreis an, dass Wilke-Produkte im Zusammenhang mit „zwei Todesfällen in Südhessen“ stünden – eine falsche Angabe, die der Landkreis später in Reaktion auf gegenteilige Angaben des Robert-Koch-Instituts korrigieren wird. Es kursieren noch weitere Fehlinformationen an diesem Tag. Zum Beispiel, dass „alle Fleischwaren unter dem Firmennamen verkauft würden“.
  • 4. Oktober: Eine foodwatch-Recherche macht öffentlich, dass Wilke-Produkte auch unter
    dem Label von Handelsmarken verkauft wurden – der Großhandelskonzern Metro bestätigt schließlich öffentlich, dass zwei seiner Eigenmarken betroffen sind. 
  • 4. Oktober: Der Rückruf funktioniert nicht ausreichend: Wie foodwatch publik macht,
    hatten Patienten in der Reha-Einrichtung „UniReha“ des Universitätsklinikums Köln noch am 3.
    Oktober – also nach dem Start des Rückrufs – Wilke-Wurst zum Frühstück erhalten.
  • 6. Oktober: foodwatch stellt beim Landkreis Waldeck-Frankenberg, dem Regierungspräsidium Darmstadt und beim hessischen Verbraucherschutzministerium einen Antrag ein, binnen 48 Stunden alle bekannten Produktnamen sowie Verkaufs- und Abgabestellen der zurückgerufenen Wilke-Waren herauszugeben. Zuvor hatte der Landkreis auf seiner Internetseite angegeben, dass das Unternehmen eine vollständige Abnehmerliste an das Regierungspräsidium Darmstadt übergeben habe, die behördenintern weiterleitet worden sei. 
  • 7. Oktober: foodwatch macht öffentlich, dass Ikea ebenfalls Wurst-Aufschnitt von Wilke in
    seinen Restaurants verkauft hat. Der Möbelkonzern hatte den Verkauf schnell gestoppt, seine
    Kunden jedoch bis dato nicht informiert.
  • 7. Oktober: Die hessischen Behörden ergänzen ihre Angaben zu den vom Rückruf
    betroffenen Produkten u.a. auf lebensmittelwarnung.de um eine Liste mit 13 Markennamen und
    wenig später eine Produktliste mit mehr als 1.100 Einträgen (die Listen werden am 9. Oktober ergänzt). Erstmals wird die Öffentlichkeit darauf gestoßen, dass auch vegane und vegetarische Produkte vom Rückruf erfasst sind – ob es auch bei ihnen zu irgendeinem Zeitpunkt Listerien-Nachweise gab, bleibt unklar. 
  • Am 8. Oktober verstreicht die 48-Stunden-Frist ohne Antwort. foodwatch reicht daher beim
    Verwaltungsgericht Kassel einen Eil-Antrag ein, um die Information der Öffentlichkeit über
    Wilke-Abnehmer und bekannte Verkaufsstellen mit einer einstweiligen Anordnung gegen den
    Landkreis Waldeck-Frankenberg gerichtlich zu erwirken.
  • 9. Oktober:  Eine Veröffentlichung des RKI zeigt, dass der Skandal größer ist und weiter in
    die Vergangenheit reicht als bisher gedacht. So werden mindestens drei Todesfälle in BadenWürttemberg, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt aus den Jahren 2017 und 2018 dem
    Listeriose-Ausbruch zugeschrieben. Der Landkreis Waldeck-Frankenberg wird daraufhin seine
    (falsche) Angabe von zwei Listeriose-Toten in Hessen zurückziehen. 
  • 10./11. Oktober: foodwatch-Recherchen zeigen, dass auch mehrere der größten Caterer Deutschlands Wilke-Produkte bezogen hatten. Während Sodexo und Wisag die betroffenen Produkte noch am Tag des Rückrufs ausgelistet haben, hat die „SV Group“ dies erst fünf Tage später vollzogen und erst sieben Tage nach dem Rückruf alle belieferten Betriebe angewiesen, ihre Lager auf Wilke-Produkte zu prüfen und ggf. vorhandene Produkte zu sperren. Das Unternehmen Dussmann, das Essensangebote u.a. für Kitas, Kliniken, Betriebskantinen und den Deutschen Bundestag macht, erklärt auf foodwatch-Anfrage, von Wilke beliefert worden zu sein. Das habe nur „wenige Kundenobjekte“ betroffen ؘ– welche, verrät das Unternehmen aber nicht.
  • 11. Oktober: Das Verwaltungsgericht Kassel lehnt den Eil-Antrag von foodwatch auf
    Herausgabe der von Wilke belieferten Unternehmen und behördlich bekannten Verkaufsstellen
    ab.
  • 12. Oktober: Bundesernährungsministerin Julia Klöckner äußert sich erstmals zum Fall Wilke.
    In der Bild-Zeitung betont sie dabei ausschließlich die Verantwortung der Bundesländer. Diese
    müssten in ihrer Zuständigkeit für die Lebensmittelüberwachung für „regelmäßige, effektive
    Kontrollen“ sorgen und ihren Aufgaben „mit ausreichend Personal [...] gerecht werden“.
  • (Update!) 16. Oktober: Hessens Verbraucherschutzministerin Priska Hinz muss sich im Umweltausschuss des Landtags in Wiesbaden den Fragen der Abgeordneten stellen. Die Oppositionsfraktionen wollen von ihr wissen, ob zu spät und nicht ausreichend genug über die Zustände bei dem nordhessischen Wursthersteller Wilke informiert wurde.