Lobby-Aktivitäten gegen die Ampel

Weit über eine Milliarde Euro hat die europäische Ernährungsindustrie in eine beispiellose, jahrelange Lobbyschlacht investiert, um eine gesetzlich verpflichtende Kennzeichnung von Zucker, Fett und Salz in Ampelfarben zu verhindern und ihre eigenen Vorstellungen durchzusetzen.

Seit Jahren sprechen sich Gesundheitsexpert:innen, Ärzteverbände und Verbraucherorganisationen für die Einführung einer verständlichen Lebensmittelkennzeichnung aus. Und seit genauso so vielen Jahren kämpft die Lebensmittelindustrie dagegen. Die Lobby befürchtet Gewinneinbußen, wenn die Verbraucher:innen auf einen Blick erkennen könnten, welche Produkte unausgewogen sind.

Eine Geschichte von 18 Jahren Lebensmittel-Lobbyismus

Wie unter dem Brennglas zeigt die Debatte um ein verbraucherfreundliches Nährwertlabel, wie Lebensmittelpolitik funktioniert – und welchen Einfluss die Industrie hat. Selbst eine banale Kennzeichnung, die im Grunde nichts weiter leistet, als die Angaben auf der Rückseite der Verpackung verständlich auf der Vorderseite darzustellen, wird jahrelang bekämpft und verhindert.

2004

Britische Abgeordnete drängen auf die Einführung eines Ampelsystems („Multiple Traffic Light“) in Großbritannien, um die zunehmenden Gesundheitsprobleme aufgrund von Adipositas zu bekämpfen. Diese Nährwertkennzeichnung würde es den Verbrauchern ermöglichen, (un)gesunde Produkte auf einen Blick zu vergleichen.

2005

Tesco, die größte Einzelhandelskette des Vereinigten Königreichs, führt ein kompliziertes Gegenmodell ohne Farben ein: GDA (Guideline Daily Amount). Die Industrie will nicht, dass ihre ungesunden Produkte eine orangene oder rote Ampel erhalten.

2006

Große Lebensmittelunternehmen wie Kellogg's, PepsiCo und andere gehen ebenfalls gegen die Ampel vor und übernehmen das farblose GDA-System. Sie wollen keine roten Ampeln auf ihren Produkten!

Die britische Regierung lässt sich von der Lebensmittelindustrie nicht beeindrucken und empfiehlt die Ampel. Leider bleibt die britische Ampel freiwillig.

2007

Auch in anderen EU-Ländern wie Österreich und Spanien werden erste Stimmen für die Ampel laut.

In verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten werden die Lobbyverbände aktiv. In Deutschland wehrt sich die Lebensmittelindustrie gegen die Ampelfarben, da sie Produkte, die eine rote Farbe erhalten, "diskriminieren" würde.

2008

Die EU will die europäischen Kennzeichnungsvorschriften mit einer Verordnung zur Information der Verbraucher über Lebensmittel überarbeiten. Leider sieht die Europäische Kommission in ihrem Entwurf kein verbindliches Ampelsystem vor. 

84 Prozent der Deutschen sprechen sich in einer repräsentativen Umfrage für eine klare Nährwertkennzeichnung mit den Ampelfarben aus .

2009

foodwatch startet eine Kampagne für die Einführung der Lebensmittel-Ampel zur Nährwertkennzeichnung auf der Vorderseite der Verpackung. Bis 2010 haben fast 60.000 Menschen die E-Mail-Aktion unterzeichnet. 

Der Industrielobbyverband FoodDrinkEurope fordert in einem Memo alle möglichen Ausnahmen von einer transparenten Kennzeichnung.

Unternehmen wie Coca-Cola machen mitten im EU-Parlamentsgebäude mit Lobbyständen Stimmung für das farblose GDA-Modell und gegen die Ampel.

2010

Corporate Europe Observatory enthüllt in einem Bericht, dass die Industrie über eine Milliarde Euro für Werbung, Kampagnen und bezahlte Studien für das GDA-Industriemodell ausgegeben hat. 

Das Europäische Parlament stimmt gegen die verpflichtende Ampelkennzeichnung. Die Lobbyarbeit war erfolgreich – die Abgeordneten beugen sich dem massiven Druck der Industrie.  

Immerhin: Die EU führte erstmals eine verpflichtende Angabe des Gehalts an Zucker, Fett, Salz & Co. in Form der Nährwerttabelle auf der Rückseite der Verpackung ein – bis dahin blieben auch diese Informationen weitgehend geheim. Ohne die Diskussion um die Ampel wäre dies wohl nicht gelungen.

2013

Lebensmittelunternehmen in Großbritannien führen freiwillig die britische Ampel ein. Doch nach jahrelangem Lobbykampf werden die Kriterien dafür stark aufgeweicht: Zuckerhaltige Produkte bekommen plötzlich seltener eine rote Ampel als zuvor.

2014

Die Ampel heißt jetzt Nutri-Score! 2014 entwickeln französische Wissenschaftler:innen den Nutri-Score, ein neues System, das auf verschiedenen Farbcodes basiert.

2017

Frankreich führt den Nutri-Score ein.

2018

Coca-Cola, Mars, Mondelez, Nestlé, PepsiCo und Unilever starten ihren Gegenangriff und entwickeln ein weiteres unwirksames Gegenmodell: das "Evolved Nutrition Label". Mit dieser Kennzeichnung sehen selbst zucker- und fetthaltige Schokoladenaufstriche gesund aus. Nach überwältigender Kritik ziehen die Unternehmen die Industrie-Ampel zurück.

Belgien und Spanien führen den Nutri-Score ein.

2019

Ende 2019 kündigt die niederländische Regierung den Nutri-Score als neues System zur Nährwertkennzeichnung an.

Bundesernährungsministerin Julia Klöckner lässt eine wissenschaftliche Studie umschreiben, die dem Nutri-Score ein gutes Zeugnis ausstellt. Während die ursprüngliche Studie des staatlichen Max-Rubner-Instituts den  Nutri-Score als „grundsätzlich vorteilhaft“ für eine Nährwertkennzeichnung bewertet, heißt es im Fazit der für das Ministerium überarbeiteten Version, dass „keines der NWK-Modelle uneingeschränkt empfohlen werden“ könne. Ein eigenes Kennzeichnungsmodell, den „Wegweiser Ernährung“, ließ Klöckner dann auf Grundlage des Modells der Lebensmittellobby entwickeln. foodwatch deckt die Manipulation auf und reicht Klage gegen das Ernährungsministerium ein. Mit Erfolg: Das Gericht stellt klar, dass das Ministerium die Studie hätte unzensiert veröffentlichen müssen.

2020

Auch Deutschland bekommt den Nutri-Score! Seit November 2020 dürfen Hersteller in Deutschland die Ampel ganz offiziell auf die Verpackungen drucken. Ernährungsministerin Klöckner musste ihren Widerstand aufgeben, nachdem auch große Unternehmen wie Danone, Iglo und Nestlé auf den Nutri-Score setzten und eine von ihr in Auftrag gegebene Verbraucherumfrage noch einmal bestätigte, dass die Mehrheit sich den Nutri-Score wünscht. Auf nationaler Ebene können Lebensmittelhersteller den Nutri-Score nur auf freiwilliger Basis nutzen – nur die EU-Kommission kann die Ampel verpflichtend einführen.

Der Lebensmittelverband Deutschland muss zwar akzeptieren, dass der Nutri-Score in Deutschland kommt – er versucht aber bereits, die Berechnungsgrundlage für das Label zu verwässern, damit zum Beispiel zuckerhaltige Getränke oder Wurstwaren besser bewertet werden als von unabhängigen Wissenschaftler:innen empfohlen.

2021

Mehr als 400 europäische Wissenschaftler:innen und medizinische Fachverbände fordern die EU-Kommission auf, die Lebensmittelkennzeichnung Nutri-Score in der EU verpflichtend zu machen. Sie warnen vor Lobbyversuchen der Lebensmittelindustrie, dies zu verhindern.

Und tatsächlich: Die italienische Regierung entwickelt sich zum Spitzenreiter einer massiven Kampagne gegen den Nutri-Score in Brüssel, im Interesse von Konzernen wie Ferrero. Ihre Behauptungen, der Nutri-Score diskriminiere die mediterrane Ernährung und traditionelle Produkte, sind einfach nicht wahr.

Auch die Internationale Agentur für Krebsforschung spricht sich für die verpflichtende Einführung des Nutri-Scores in Europa aus. Die Lebensmittelampel helfe den Verbraucher:innen dabei, ihr Risiko für nichtübertragbare Krankheiten wie Krebs zu senken. 

2022

Das Wissenschaftliche Komitee des Nutri-Score überarbeitet die Berechnungsgrundlagen der Ampel. Ungünstige Nährstoffe wertet der Nutri-Score künftig strenger. Dadurch werden Fertiglebensmittel, Tiefkühlpizzen oder Backwaren eine schlechtere Bewertung bekommen.

2023

Damit der Nutri-Score seine volle Wirkung entfalten kann, reicht eine freiwillige Kennzeichnung nicht aus. Die Europäische Kommission will 2023 eine verbindliche europäische Nährwertkennzeichnung für Lebensmittel vorschlagen. foodwatch setzt sich für den Nutri-Score ein. Er ist erwiesenermaßen das wirksamste und verbraucherfreundlichste Modell im EU-Binnenmarkt und bereits in sechs EU-Mitgliedstaaten eingeführt: Belgien, Frankreich, Deutschland, Luxemburg, Niederlande und Spanien.