Frage des Monats 06.09.2022

Was bringt das neue Tierhaltungskennzeichen?

iStock / kadmy

Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir hat den Gesetzentwurf für ein staatliches Tierhaltungskennzeichen vorgestellt – mit fünf verschiedenen Stufen. Was bedeutet das Siegel genau, und geht es den Tieren in der höchsten Stufe wirklich gut? Andreas Winkler von foodwatch antwortet:

foodwatch/Sabrina Weniger

Viele Verbraucher:innen wollen beim Einkaufen auf gute Tierhaltung achten. Im Supermarkt finden wir eine schier unüberschaubare Anzahl verschiedener Siegel, die uns eine heile Tierwelt versprechen. Neben den vielen Labels, die die Lebensmittelindustrie sich selbst ausgedacht hat, soll es jetzt auch ein neues staatliches Kennzeichen geben, und zwar verpflichtend: Ein schwarz-weißes, abgerundetes Rechteck mit der Bezeichnung „Tierhaltung“ und der jeweiligen Haltungskategorie, von Standard bis Bio. Das Siegel soll zunächst frisches Schweinefleisch kennzeichnen und nach und nach auf weitere Produkte und Tierarten ausgeweitet werden.

Laut Gesetzentwurf sind fünf Stufen geplant: 
•    Die Haltungsform „Stall“ entspricht den gesetzlichen Mindestanforderungen. 
•    In der Stufe „Stall + Platz“ müssen Schweine unter anderem mindestens 20 Prozent mehr Platz haben als gesetzlich vorgeschrieben.
•    Bei „Frischluftstall“ muss mindestens eine Seite des Stalls offen sein.
•    In der Stufe „Auslauf/Freiland“ müssen die Tiere die Möglichkeit haben, ins Freie zu gehen.
•    „Bio“ entspricht den Standards der Bio-Verordnung. Das heißt zum Beispiel, Schweine haben mehr Platz und Auslauf im Freien, es gelten strengere Vorgaben für Antibiotika, gentechnisch veränderte Futtermittel sind verboten.

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Bundesagrarminister Cem Özdemir (Grüne) verspricht, die geplante Haltungskennzeichnung fördere eine „artgerechte“ und „tiergerechte“ Nutztierhaltung. Doch bei genauerem Hinsehen wird klar: Auch das neue staatliche Siegel wird an Qual und Leid in den Ställen wenig ändern. Warum?

Zunächst einmal sind die ersten drei Stufen absolut inakzeptabel. Stufe 1 bringt überhaupt keine Fortschritte für die Tiere, sondern bildet nur den geltenden gesetzlichen Mindeststandard ab, der vor allem die Interessen der Fleischindustrie an billigstmöglicher Produktion bedient. Auch Stufe 2 und 3 führen lediglich zu kosmetischen Verbesserungen. 20 Prozent mehr Platz bedeutet in der Praxis: Ein 110 Kilogramm schweres Mastschwein hat anstatt 0,75 Quadratmeter, die heute per Gesetz vorgeschrieben sind, lächerliche 0,15 Quadratmeter mehr Platz. Schweine sind also immer noch eingepfercht auf einer Fläche, die kleiner ist als 1x1 Meter. Tiergerechte Haltung sieht anders aus! Daran ändert leider auch eine offene Stallwand (Stufe 3) nichts. Und auch die formalen Anforderungen der Bio-Haltung (Stufe 5) reichen allein nicht aus. Denn auch in vielen Ökoställen werden immer wieder Tiere krank und leiden. 

Schmerzen und Krankheiten spielen keine Rolle

Der entscheidende Schwachpunkt an dem Siegel-Vorschlag von Minister Özdemir ist daher: Wie viele Tiere Schmerzen und Schäden erleiden, wird gar nicht erfasst! Dabei zeigen wissenschaftliche Studien seit Jahren: Nutztiere in Deutschland leiden massenhaft an Krankheiten und Schmerzen – und zwar in allen Haltungsformen, von bio bis konventionell. 

Natürlich sind mehr Platz im Stall und Auslauf ins Freie wichtig und richtig, damit die Tiere zumindest ein paar ihrer arteigenen Bedürfnisse und Verhaltensweisen ausüben können. Aber das allein ist keine Garantie dafür, dass die Tiere gesünder sind, wie in zahlreichen wissenschaftlichen Studien immer wieder bestätigt wurde. Aus Schweinen, Kühen oder Hühnern wird das letzte Bisschen rausgepresst, damit sie möglichst viel Fleisch, Eier und Milch liefern. Das macht sie anfällig für Krankheiten! Milchkühe zum Beispiel leiden oft an schmerzhaften Euterentzündungen, weil ihnen jeden Tag bis zu 60 Liter Milch abgepumpt werden. Hühnern und Puten brechen unter ihrem eigenen Körpergewicht die Knochen, weil sie im Akkord gemästet werden oder die vielen Eier alles Kalzium aufbrauchen. Schweine haben Lungenentzündungen, offene Wunden, Abszesse. Mehr als 13 Millionen (!) kranke und verletzte Schweine landen jedes Jahr als Kadaver in der Tierkörperbeseitigung – sie verenden, bevor sie überhaupt den Schlachthof erreichen. 

Gesetzliche Vorgaben für gesunde Tiere gibt es nicht

Diese Probleme gibt es leider in allen Haltungsformen. Kranke Tiere gibt es auf Bio-Höfen genauso wie in großen Tierfabriken. Denn ob die Tiere gesund sind, hängt nicht einfach nur davon ab, ob sie im Stall ein paar Zentimeter mehr Platz oder Stroh auf dem Boden haben. Ganz entscheidend ist auch, ob ein Tierhalter ein gutes Auge für die Tiere hat, ob er mit den auf Höchstleistung gezüchteten Tieren zurechtkommt und wie es etwa um die Betriebshygiene und Futterqualität bestellt ist. 

Das Problem ist: Es gibt bisher keinerlei gesetzliche Vorgaben für Landwirt:innen, dass sie ihre Tiere gesund halten müssen. Ein Landwirt, der immer wieder kranke Tiere abliefert, braucht kaum Konsequenzen zu befürchten.

Fazit: Ein Label, das lediglich über die Unterschiede in der Haltung informiert, ändert rein gar nichts an millionenfachen Krankheiten und am Leiden von Nutztieren. Für uns Verbraucher:innen bedeutet das leider: Mit unseren Kaufentscheidungen können wir das Elend der Nutztiere nicht lindern. Wenn wir im Supermarkt nach Joghurt, Käse oder Fleisch greifen, haben wir mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Produkt in der Hand, das von einem kranken Tier stammt – egal aus welcher Haltungsstufe. 

Wir von foodwatch fordern daher: Anstatt weiterer Siegel braucht es endlich verbindliche gesetzliche Vorgaben, die sicherstellen, dass alle Tiere in allen Ställen gut und gesund leben können!

Gesunde Tiere statt Tierqual-Label!

Schreiben Sie jetzt an Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir und fordern Sie endlich wirksame Maßnahmen statt neuer Labels!

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